Im Herbst 1973 kam es zwischen dem FC Bayern München und Dynamo Dresden erstmals zu einem deutsch-deutschen Europapokal-Duell. Die Ereignisse überschlugen sich vorher, währenddessen und danach.
Mit wahrscheinlich weit aufgerissenen Augen saß Walter Fritzsch auf dem Betzenberg und wusste nun nicht genau, was er denken sollte. Vier Tage bevor der Trainer von Dynamo Dresden in der zweiten Runde des Europapokals der Landesmeister auf den FC Bayern treffen würde, im ersten deutsch-deutschen Duell der Europapokalgeschichte, sah er die Münchener beim 1. FC Kaiserslautern erst hochdominant mit 4:1 in Führung gehen, ehe sie desaströs in sich zusammenfielen und noch mit 4:7 verloren. Die wahrscheinlich berühmteste Aufholjagd der Bundesliga-Geschichte.
Halb so wild. Auch die Bayern hatten ihren Gegner aus dem “anderen” Deutschland beobachtet und dabei ein nur wenig beeindruckendes 0:3 gegen Zwickau gesehen. “Wenn wir gegen die verlieren, bleibe ich in der DDR”, tönte Münchens Manager Robert Schwan großspurig. Fritzsch hingegen äußerte, dass er sich eher an den guten Minuten der Bayern orientieren würde, ehe Lautern den Spieß komplett umbog. Ein gewisses Arroganz-Gefälle war herauszuhören.
Sicherlich lag das auch an der öffentlichen Erwartungshaltung. Würden die Profis des großen FC Bayern den verpönten DDR-Fußballern unterliegen, wäre das eine noch größere Schmach gewesen, als der westdeutsche Meister sie auf dem Betzenberg erfahren musste. Obwohl man sich im Landesmeister-Cup bisher noch nicht nach Münchener Gusto hatte profilieren können. Und der ostdeutsche Meister war gewiss keine Laufkundschaft.
Während Bayern in der ersten Runde gegen den doch recht unbekannten schwedischen Vertreter Atvidabergs FF ins Elfmeterschießen gemusst hatte, war Dynamo gegen den Vorjahresfinalisten Juventus Turin in eindrucksvoller Manier zurückgekommen. Plötzlich war man sich im Westen gar nicht mehr so sicher.
“Die Bayern weht derzeit ein Lüftchen um”, verpackte der “kicker” eine allmählich waschechte Münchener Krise, während die Dresdener zwar als “krasser Außenseiter” betitelt wurden – aber “sie rennen, bis sie nicht mehr können”. Und: “Man muss sie niederkämpfen.”
Die Dresdener lachen über Bayerns Defensive
Laufstärke und Entschlossenheit der Sachsen, die eigentlich als notorisch auswärtsschwach galten, bekommt der FC Bayern gleich in München zu spüren, wo Frank Ganzera früh bis auf die Grundlinie marschiert, die Franz Beckenbauer im Duell der Kapitäne viel zu lasch verteidigt. “Die können in der Deckung ja nichts”, raunt man sich auf der Dynamo-Bank zu. Oha. Dass Ganzeras Flanke in der Mitte von Johnny Hansen unglücklich ins eigene Tor befördert wird, passt in diesen Wochen zum FCB. Der krasse Außenseiter führte. Übrigens nicht vor ausverkauftem Haus, weil Bayern an diesem besonderen Abend zu viel Eintrittsgeld verlangt hatte.
Mit ihrem dynamischen Flügelspiel hebelt die SGD die großen Bayern wieder und wieder aus, deren Fokus auf das Zentrum sich allerdings auch bezahlt macht. Willi Hoffmann trifft – aus klarer Abseitsposition – zum schnellen Ausgleich, ein herrlicher Fernschuss von Bernd Dürnberger dreht das Spiel. Doch zu keinem Zeitpunkt dominieren die Bayern es wirklich souverän, obwohl Dresden ohne seinen verletzten Unterschiedsspieler Hans-Jürgen Kreische auskommen muss.
Als Rainer Sachse und Gert Heidler – natürlich fallen beide Tore über außen – noch vor der Pause wieder auf 3:2 für Dresden stellen, sieht sich Bayern-Präsident Wilhelm Neudecker in der Halbzeit genötigt, die Münchener Siegprämie zu erhöhen. Auf 12.500 Mark pro Kopf, so hoch war sie noch nie gewesen. Neudecker wollte sich seinen 60. Geburtstag doch nicht verderben lassen.
Den Bayern ist der ihnen angedichtete Dusel hold, als Franz “Bulle” Roth per abgefälschtem Zufallsschuss den 3:3-Ausgleich erzielt; für das 4:3-Siegtor, das Bayern ausgerechnet über außen einleitet, lässt sich dann “Bomber” Gerd Müller erweichen. Auf dem Zahnfleisch wahren durch etliche Promo-Partien völlig überspielte Münchener – der Verein braucht damals Geld – ihr Gesicht. Mehr aber auch nicht.
“4:3 – und alle zittern noch”, schreibt der kicker – oder: “Bayern wahrscheinlich draußen”. Denn “Heim” und “Auswärts” bedeuteten in diesen Jahren noch mehr, vor allem für Dynamo, das zu Hause noch mal ein ganz anderes Kaliber war.
Kriselnde Bayern, die in dieser Zeit sogar Kontakt mit dem eben erst zu Real Madrid gewechselten Günter Netzer aufnehmen, sind gewarnt, als sie zwei Wochen später zum Rückspiel nach Dresden reisen. In erster Linie aber nicht wegen der sportlichen Fähigkeiten des ebenbürtigen Kontrahenten.
Die Münchener sollen in Dresden im hochwertigen “Interhotel Newa” unterkommen, hunderte, wenn nicht tausende ostdeutsche Fußballfreunde warten vor dessen Toren voller Vorfreude auf die westdeutschen Weltstars. Doch die kommen nicht. Mit der Begründung, dass die etwa 400 Meter Höhenunterschied zwischen München und Dresden wegen der Akklimatisierung zu viel seien, übernachtet der FC Bayern kurz vor der innerdeutschen Grenze in Hof und reist erst am Spieltag an. Verwunderung.
Hintergrund dieser Maßnahme: Während der Junioren-EM 1969 in der DDR hatte Bayern-Trainer Udo Lattek, der damals die BRD-Auswahl betreute, mitbekommen, wie einige Mannschaften plötzlich an kollektivem Durchfall litten. Gerüchte machten die Runde, dass die Stasi das Essen ostdeutscher Konkurrenten willentlich verunreinigt haben soll.
Auch Uli Hoeneß, 1969 Kapitän der BRD-Junioren, stattete bei der Vereinsführung Bericht ab – später soll er finden, dass Manager Schwan “unsere Erzählungen überinterpretiert hat” und dass die Zwischenstation in Hof “ein bisschen übertrieben war”. Doch 1973 war Zwietracht gesät. Nicht ganz zu Unrecht, wie sich später herausstellen sollte: In Bayerns Besprechungssaal ließ eine Wanze Dynamo die gegnerische Mannschaftsbesprechung mithören.
Schlüsselspieler Hoeneß
Latteks entscheidender taktischer Kniff konnte darin aber nicht mehr wirklich thematisiert worden sein, denn in den ersten Minuten des Rückspiels, in dem die Dynamo-Fans im Rudolf-Harbig-Stadion “für südländische Atmosphäre sorgen” (kicker), treten die Hausherren immer wieder in die gleiche Falle.
Selbst Sturmspitze Müller, der bereits bei der Generalprobe gegen Bochum eine Hälfte lang hängend spielte, zieht Lattek in der Anfangsphase bis an die Mittellinie zurück, um Dresdens letzte Reihe weit vom eigenen Tor wegzulocken. In all den freien Raum schicken die Bayern daraufhin den pfeilschnellen Hoeneß auf die Reise, der seinem Manndecker Eduard Geyer in den ersten zwölf Minuten ganze viermal davonläuft. Zweimal erzielt er dabei ein Tor. Traumstart für München.
Die halbe Miete, maximal. Dynamo lässt sich nicht verunsichern, stürmt weiterhin auch mit Müller-Bewacher Siegmar Wätzlich, der mit einer Einzelaktion für das Anschlusstor sorgt und dem gegen Hansen ein glasklarer Elfmeter verwehrt wird. Die Bayern haben Glück und Keeper Sepp Maier, der Schlimmeres verhindert. Der aber nicht gut aussieht, als Reinhard Häfner nach Hartmut Schades Ausgleich das Spiel dreht, während Beckenbauer komplett defensiv gebunden ist. Müller muss Wätzlich mehr folgen als andersrum.
Aufgrund der Auswärtstorregel wäre Dresden in diesem Moment weiter. Das beflügelt. Wie Ikarus. Viel zu schnell fängt sich der DDR-Meister das 3:3 durch Müller, kann am Ergebnis, das das Ausscheiden bedeutet, danach nichts mehr ändern und geht als höchst unglücklicher Verlierer aus diesem deutsch-deutschen Duell auf Augenhöhe. “Die Dresdener haben auch im Rückspiel bewiesen, dass sie es durchaus mit unserem Meister aufnehmen können”, bilanziert der kicker. “In Spieldynamik und mannschaftlicher Geschlossenheit übertrafen sie ihn sogar.”
Im Osten wird als Buhmann zwangsläufig Hoeneß-Jäger Geyer hingestellt, was schon bei seinem eigenen Trainer anfängt: “Mir ist es ein Rätsel, wieso Geyer – sonst die Zuverlässigkeit in Person – gegen Hoeneß so leichtfertig spielen konnte”, rügt Fritzsch. “Er ist ein Opfer seines Vorwärtsdrangs geworden.” Wie die ganze Dresdener Mannschaft nach dem 3:2.
Die SGD hatte ein von Skepsis, Sticheleien und Offensivfußball geprägtes Duell zwar nicht gewonnen, dafür aber die Anerkennung vieler Fußballer im Westen, was es davor nicht gegeben hatte. “Wenn man Dynamo als Maßstab nimmt, muss man sagen, dass die DDR-Fußballer doch mit zur europäischen Spitze gehören”, räumt noch auf dem Abendbankett Beckenbauer ein, der den Gegner zuvor angeblich “ein bisschen unterschätzt” hatte.
Sieben Monate später trafen die Nationalmannschaften beider Nationen, zum einzigen Mal in einem Pflichtspiel, bei der WM in der BRD aufeinander. Die DDR gewann. Und Deutschland wurde Weltmeister.