Am 2. Juni 1971 gewann Ajax Amsterdam erstmals den Europapokal der Landesmeister. Der Höhepunkt des “totalen Fußballs” folgte aber erst später – und machte das Team kaputt.
Dass der Einfluss dieser Philosophie noch 50 Jahre später ungebrochen ist, musste vergangene Woche mit Pep Guardiola selbst einer ihrer größten Propheten am eigenen Leib erfahren. Weil sie mit Thomas Tuchel ein bekennender Jünger des Katalanen – wenn auch lernfähiger und selbstsicherer – noch einmal ein bisschen weiterentwickelte.
Zu Mainzer Zeiten hatte Tuchel den damaligen Barcelona-Trainer geradezu studiert, der die Ideen des Johan Cruyff wiederaufleben ließ, der wiederum dem FCB gemeinsam mit Trainerlegende Rinus Michels ab 1973 seine spätere Identität vermacht hatte.
Beim Aneinanderlegen der Zeitstränge fällt allerdings auf, dass Michels bereits 1971 und damit zwei Jahre vor Cruyff gen Barcelona gezogen war, Ajax’ großartige Totalfußballer also nur den ersten ihrer drei aufeinanderfolgenden Europapokale unter Michels gewonnen hatten. Ehe sie nach seinem Abgang sogar noch besser wurden. Wie das?
Der strenge und der “coole” Lehrer
Konnte man Michels überhaupt wirklich ersetzen? Jein. Der strenge Fußballlehrer hatte seinen Schützlingen neben eiserner Disziplin auch eine Kultur der Diskussion und der Selbstbestimmung beigebracht – die historisch talentierte Mannschaft um Cruyff, Piet Keizer, Johan Neeskens oder Ruud Krol hätte sich wahrscheinlich auch selbst trainieren können.
Bei Ajax entschied man sich daher, denn ohne Trainer geht es schließlich auch nicht, für eine recht günstige und unkomplizierte Lösung: den Rumänen Stefan Kovacs. Der damals 50-Jährige hatte mit Steaua Bukarest einige nationale Erfolge feiern können, war ansonsten aber ein relativ unbeschriebenes Blatt. Für seine Spieler, immerhin die besten Spieler Europas, sorgte der reservierte Michels-Nachfolger gleich mal für einen regelrechten Kulturschock.
Im Gegensatz zu “Bollerkopf” Michels, der neben den berühmten Positionsrochaden, dem Pressingverhalten und dem kollektivem Aufrücken auch den privaten Umgang, das Ausgehverhalten oder die Frisur seiner Spieler kontrolliert hatte, konzentrierte sich Kovacs rein auf das Fußballerische. Was aufgrund wichtiger Feinschliffe in puncto Symmetrie, einer zentraleren Rolle für Cruyff und einem noch klareren und kompakteren 4-3-3 nicht zu unterschätzen war.

Doch darüber hinaus ließ Kovacs, stets um Harmonie bemüht, seine Spieler einfach von der Leine. Cruyff und Co. genossen in einem vereinfachten System nie gekannte Freiheiten und erreichten ob ihrer Extraklasse in Kovacs’ erster Saison 1971/72 ihren qualitativen Höhepunkt, woraus fast zwangsläufig der Gewinn des Triples resultierte. Das Lotterleben hatte allerdings seinen Preis.
1:0 ist zu wenig
“Kovacs war ein guter Trainer”, lobte Ajax-Stratege Gerrie Mühren den Rumänen in David Winners “Brilliant Orange” Jahre später, “doch er war zu nett. Unter Michels war es strenger, aber professioneller. In Kovacs’ erstem Jahr spielten wir noch besser als unter Michels, doch nach diesem Jahr war alle Disziplin verflogen und es war vorbei. Wir hatten einfach nicht mehr den gleichen Spirit.”
An das Triple 1972 reihte sich zwar noch der dritte Landesmeister-Triumph in Serie, auf dessen Weg etwa die Ajax auf Europas Thron nachfolgenden Bayern mit 4:0 gedemütigt wurden. Doch die Vereinsoberen hatten Kovacs, den angeblichen Anti-Disziplinaren, bereits am Ende seiner ersten Saison feuern wollen – erst recht, nachdem Benfica Lissabon im Landesmeister-Halbfinale nach insgesamt 180 Minuten nur mit 1:0 geschlagen worden war. Das war schließlich nicht Ajax-like.

Vermutlich war es aber Ajax-like, dass zu viele meinungsstarke Köche, von Michels zum Konflikt erzogen, irgendwann einfach den Brei verdarben. Das Team spaltete sich in Gruppierungen. Als endgültiger Anfang vom Ende gilt die Kapitänswahl zur Saison 1973/74, als bereits George Knobel, Kovacs’ Nachfolger, die Spieler entscheiden ließ – die sich gegen Alles-Entscheider Cruyff entschieden, woraufhin dieser beleidigt zu Barca wechselte.
Seine vermeintlich disziplinlose Führung der herausragenden Vereinsmannschaft der 1970er Jahre kostete Kovacs nach zwei abenteuerlichen Spielzeiten den Job. Im Raum Amsterdam kreidet man ihm bisweilen noch heute den Niedergang des totalen Fußballs an, in Rumänien wurde er bei der Wahl zum Trainer des Jahrhunderts hinter Mircea Lucescu, Anghel Iordanescu und Laszlo Boloni gerade einmal Vierter.
Kovacs prägt eine weitere Ära
“Wir hätten ewig Champions bleiben können”, hadert Mühren. “Die Resultate bewiesen, dass Kovacs’ Weg kein falscher war“, entgegnete Cruyff, mit dem – und mit dessen Extrawürsten – der laissez-faire Kovacs am meisten angebandelt hatte. Doch als Egozentriker Cruyff seine Mitspieler mehr und mehr verlor, verlor sie auch Kovacs.
Ohne diese beiden und schließlich jede Disziplin driftete das große Ajax schon 1974 in Alkohol- und Frauengeschichten ab – während Stefan Kovacs, der 1995 verstarb, als französischer Nationaltrainer gerade in der EM-Quali scheiterte. Und seinem Nachfolger Michel Hidalgo ein Team überließ, das in den 1980er Jahren Europas besten Fußball spielte.