Die waghalsigste Aktion des Günter Netzer war wahrscheinlich nicht seine Selbsteinwechslung im Pokalfinale. Die Frau eines Mitspielers wäre ihm beinahe auf die Schliche gekommen.
Ein Rebell, was ihm ja ständig nachgesagt wird, sei er eigentlich gar nicht gewesen, betont Günter Netzer inzwischen gebetsmühlenartig. Zumindest nicht abseits des Rasens, auf dem er Defensivarbeit gerne ignorierte oder sich auch mal selbst einwechselte. Privat habe der legendäre Spielmacher von Borussia Mönchengladbach und Real Madrid zwar für einen Fußballer damals ungewöhnliche Interessen gehabt, ansonsten sei er aber ganz harmlos gewesen. Nun, Ausnahmen bestätigen die Regel.
Wenn schon nicht Rebell, so hat sich Netzer schon mehrfach “Glückskind” getauft, sich und sein Leben “teilweise als ferngesteuert” bezeichnet. Weil etwa die Selbsteinwechslung im DFB-Pokalfinale 1973 gegen Köln ein voller Erfolg wurde. Weil ihm ein großer Fan zum Geburtstag einmal einen Lottoschein mit dessen üblichen Tippzahlen schenkte, sich aber ausgerechnet um eine Woche vertan hatte – der Wettschein brachte auch Netzer eine sechsstellige Summe ein. “Jetzt sagen Sie mir, was das ist?”, fragte er 2013 bei Markus Lanz. “Ist das nur Glück?”
Wahrscheinlich nicht, ging doch im Januar 1974 – Netzer spielte seine erste Saison in Madrid – selbst eine schier hirnrissige Schnapsidee gut. Der damals 29-Jährige wollte spontan den befreundeten Filmregisseur Michael Pfleghar zur Hochzeit von Tina Sinatra nach Las Vegas begleiten, was damals ein verdammt kompliziertes Unterfangen war. “30 Kilometer durfte man sich aus der Stadt bewegen”, verriet Netzer, größere Ausflüge hätte er bei den Königlichen anmelden müssen. Die hätten sich gefreut.
Umso schwieriger wurde der Plan, weil der Reisepass des damals verletzten Spielgestalters im Tresor des Vereins lag. Netzer selbst hätte wahrscheinlich aufgegeben. Auch, weil die Wege vor knapp 50 Jahren alle noch ein bisschen länger waren. “Wie sollte ich denn am Samstag von Madrid nach Las Vegas gelangen, alleine logistisch, und am Montag in Madrid wieder auf dem Trainingsplatz stehen?” Doch Pfleghar hätte Überzeugungskraft. Und Netzer Kontakte. “Ein Freund in der deutschen Botschaft in Madrid hat es geschafft, mir über Nacht Papiere zu besorgen.”

Mantel übergeworfen, den Hut ins Gesicht gezogen – und los. Von Madrid nach London, nach Los Angeles, nach Las Vegas. “Außer einer Zahnbürste hatte ich nichts dabei”, so Netzer, entsprechend einkleiden ließ Pfleghar den befreundeten Star-Kicker auf dem Zwischenstopp in London. Zu diesem Zeitpunkt war die größte Hürde längst überwunden – der Abflug in Madrid. “Die Beamten, ob Polizisten oder Flughafenmitarbeiter, waren überwiegend Real-Anhänger gewesen. Wenn da einer von uns über die Stränge geschlagen hat, in der Diskothek oder am Flugplatz, bekam Real das mit”, erklärt Netzer. “Dieses System hat funktioniert.”
An diesem Abend nicht. In Pfleghars Privatjet hob Netzer unbemerkt ab. Das Glückskind hatte wieder zugeschlagen.
Den Rebellen zerreden kann Netzer dennoch nicht. “Ich fand es faszinierend, so etwas zu tun”, gestand der Europameister-Garant von 1972 noch Jahrzehnte später. Und er hätte es wieder getan, “ohne darüber nachzudenken, was das für Konsequenzen haben könnte”. Zu seinem Leben, so Netzer, gehöre eben “eine gehörige Portion Unvernunft”. Vorerst ohne Konsequenzen.
Netzer kam in Las Vegas an – und saß plötzlich am “Prominententisch”. Mit den Sinatras um Übervater Frank, mit Dean Martin, Neil Diamond, Sammy Davis junior. Mittendrin statt nur dabei bei “dem Ereignis in Amerika schlechthin – Sinatra ist zum ersten Mal nach 15 Jahren wieder in Vegas aufgetreten”. Netzer hatte sich mal wieder selbst eingewechselt. Und den nächsten gefühlten Siegtreffer erzielt.
Nach einem privaten Umtrunk mit dem großen Sinatra höchstselbst hatte dieser Netzer und Pfleghar trotz ausverkauftem Haus sogar noch zu einem Elvis-Konzert gebracht. “Auch ohne Elvis wäre es schon der Trip meines Lebens gewesen”, schwärmte ein von Eindrücken überfluteter Netzer in seiner Biografie “Aus der Tiefe des Raumes”. Doch noch in dieser Situation behielt der Ur-Zehner die Übersicht. Was ihm am Abend der schillernden Hochzeit den Allerwertesten rettete.
Das Ereignis schlechthin wurde natürlich auch von sämtlichen TV-Anstalten eingefangen, die den ganzen Abend vor allem ein Ziel hatten – den Prominententisch. “Wann immer eine Kamera kam, habe ich mich unter den Tisch geduckt”, feixt Netzer, dem das Versteckspiel damals den Angstschweiß auf die Stirn getrieben hatte. “Ich konnte Sinatra gar nicht genießen” – das hatte der heimliche Star-Gast nun davon. “Ich wusste, wenn ich da gezeigt werde – das wäre das Ende gewesen.”
Zu Ende war sein gewagter Kurztrip tatsächlich erst wieder in Madrid, wo früh morgens aber lediglich Maschinen aus Übersee landeten. Verdächtig. Da hätte sich Netzer nur schwer rausreden können. Doch Flughafenmitarbeiter und Polizisten zum Trotz passierte er – erneut mit Mantel und Hut – den Zoll und andere Schranken abermals unerkannt und erschien – “nach dem ich zwei Nächte nicht geschlafen hatte” – pünktlich zum Training.
Dann der Schock, als sich auf einmal Mitspieler Ignacio Zoco vor Netzer aufbaute und diesem sein Leid klagte. “Seine Frau, eine Sängerin in Spanien, hatte die Hochzeit im Fernsehen gesehen”, so Netzer. Sie wandte sich an ihren Gatten. “Am Prominententisch saß einer, der sah so aus wie der Günter – dann hatte Zoco einen Riesenzirkus mit seiner Frau, weil er gesagt hat: ‘Ich hab ihn doch gestern noch gesehen, das kann doch gar nicht sein'”, prustete Netzer amüsiert.
“Nach zehn Jahren habe ich ihn aufgeklärt. Wir haben sowas von gelacht.”