Mit 20 Jahren überlebte Bobby Charlton das Flugzeugunglück der “Busby Babes”. Die folgenden zehn wurden vor allem für ihn zu einer Mission.
Gegen Real Madrid reichte im Frühjahr 1957 schon ein 2:2, um bei Don Santiago Bernabeu Eindruck zu schinden. Gut, mehr noch als das Ergebnis im Halbfinal-Rückspiel, durch das die Königlichen trotzdem wieder ins Endspiel des Europapokals der Landesmeister einzogen, waren es die Leidenschaft und vor allem der spielerische Mut dieser jungen Mannschaft von Trainer Matt Busby, was den spanischen Patron beeindruckte. Nachhaltig beeindruckte.
Da war etwa Duncan Edwards, ein physisch imposanter Läufer, der mit beiden Füßen eigentlich alles konnte. Oder Torjäger Tommy Taylor, der sogar spielerisch überzeugte und trotzdem diesen unvergleichlichen Instinkt hatte. Flügelstürmer David Pegg, den man als Nachfolger Tom Finneys sah; Verbindungsspieler Eddie Coleman, der sogar seinen Mitspielern zu trickreich war; Kapitän Roger Byrne, der die Abwehr zusammenhielt. Und Nesthäkchen Bobby Charlton, der als dynamischer Halbstürmer für Furore sorgte.
Mit seiner Ausnahme waren sie, nur zehn Monate nach dem 2:2 gegen Real, alle tot.
Das tragische Flugzeugunglück von München löschte in erster Linie 23 Menschenleben aus, jedoch auch den Großteil einer Mannschaft junger Himmelsstürmer, denen nicht nur Bernabeu zugetraut hatte, den europäischen Fußball in absehbarer Zeit zu dominieren. Wie es neun Jahre zuvor der großen AC Turin ergangen war, so endeten auch die sogenannten “Busby Babes” in den Trümmern eines Flugzeugs – nachdem sie gerade ins Halbfinale des Europapokals zurückgekehrt waren.
Torhüter Harry Gregg hatte sich Manchester United erst frisch angeschlossen gehabt, als er im Schneetreiben von München zu einer Ein-Mann-Rettungscrew wurde. Samt ihren Sitzen schleifte er Charlton und den eleganten Angreifer Dennis Viollet ein gutes Stück vom Wrack weg, in der Sorge, es könnte noch explodieren. Aber auch in der Annahme, dass er zwei weitere Kameraden verloren hatte. Doch Charlton und Viollet waren nur bewusstlos. Sie hatten überlebt, weil sie kurz vor dem wiederholten Startversuch die Plätze mit Taylor und Pegg getauscht hatten, die es weiter hinten im Flugzeug für sicherer hielten.
Nur drei Wochen später stand Bobby Charlton schon wieder auf dem Platz. Er hatte lediglich ein paar Schnittwunden davongetragen, die seelischen waren da weit schlimmer gewesen. Ganz zu schweigen von der Symbolik, die nun auf diesem jungen Mann lastete. Was vom großen Versprechen, das die Busby Babes gewesen waren, noch übrig geblieben war, das war in erster Linie er. Um Charlton herum wollte Busby, der gerade so ebenfalls überlebt hatte, schweren Herzens seine neue Mannschaft aufbauen. Das sollte dauern.
Aber es gab da einen Mann, der diesen Prozess herzlich gerne beschleunigen wollte: Santiago Bernabeu. Der Real-Präsident setzte wirklich alle Hebel in Bewegung. Er bot United sogar tatsächlich an, seinen Ausnahmespieler Alfredo di Stefano für eine Saison auszuleihen. Anders als jenes der Trainerstelle in Madrid hätte Busby dieses Angebot angenommen – doch die FA schob dem Deal den Riegel vor. In Charlton hatte Busby ohnehin seinen eigenen di Stefano, der die nächste Generation seiner Babes anführte. Aber Bernabeu hatte ja noch andere Ideen.
In den folgenden Jahren organisierte er in Manchester unter anderem fünf hochgejazzte Freundschaftsspiele, die 1959 mit königlichen Machtdemonstrationen begonnen hatten – und 1962 mit einem zweiten United-Erfolg in Serie endeten. Ohne sich großartig daran zu stören hatte Bernabeu eine gewisse Wachablösung vorangetrieben. Am Ende der Saison 1962/63 feierten die Red Devils den FA Cup, ihren ersten Titel seit der Tragödie.

Während die Generation di Stefano in Madrid allmählich abtrat, war Charlton zu dem Spieler geworden, auf den sie in Manchester so sehr gehofft hatten. Vielleicht war er kein ganz so genialer Totalfußballer, aber mindestens in Sachen Haarausfall kam Bobby dem Argentinier schon bald ziemlich nahe. Auch in vielem mehr. Und mit Verstärkungen wie Denis Law aus Schottland oder dem Nordiren George Best kam Jahr für Jahr auch der Erfolg ein Stückchen näher. Charlton ordnete ihm alles unter. Was mit Lebemann Best, der das mitunter anders anging, für Konflikte sorgte.
1966, nach der umjubelten Meisterschaft im Vorjahr, schien es dann endlich soweit zu sein. Busbys neugeformte Mannschaft stand tatsächlich wieder im Halbfinale des Landesmeister-Cups, in dem sie ausgerechnet wieder nach Belgrad fliegen musste, von wo aus sie acht Jahre zuvor in München gelandet war. United erlitt eine Niederlage, von der es sich im Rückspiel nicht mehr erholen sollte. Im möglichen Traumfinale hätte die Mannschaft gewartet, die Bernabeu in Madrid neu aufgebaut hatte.
Doch neben Busby war vor allem Charlton auf einer Mission, von der er sich nicht abbringen ließ. Im folgenden Sommer führte er die englische Nationalmannschaft bei der Heim-WM zum bis heute einzigen Titel, seine Leistungen wurden daraufhin sogar mit dem Ballon d’Or prämiert. Mit einer Ausnahme hatte Charlton nun alles erreicht. Aber das war eben nicht irgendeine Ausnahme.
Um den Henkelpott zu gewinnen, hatte man damals noch zuerst Meister werden müssen. Klar, das war ja schließlich der Name dieses Wettbewerbs. 1966 waren die Red Devils gescheitert, doch 1967 war es wieder soweit. Und 1968 erst. Wieder Halbfinale. Diesmal gegen Real Madrid. Mit einem 1:0-Vorsprung aus dem Hinspiel, was für einen Auftritt in Bernabeus Stadion aber eigentlich kein Vorsprung war. Doch mit dieser Leidenschaft und diesem spielerischen Mut, mit dem sie einst sein Fußball-Herz erobert hatten, erreichten die Red Devils tatsächlich ein 3:3. Finale.
“Wenn uns schon irgendjemand schlagen musste, so bin ich froh, dass sie es waren”, gab sich Bernabeu als eleganter Verlierer. Und beinahe noch besser passte es ins Skript, dass United – als erste englische Mannschaft – den großen Europapokal im Wembley-Stadion gewinnen konnte. Doch das war leichter gesagt als getan. Wenn Real Madrid die Mannschaft der 1950er gewesen war, so war der Finalgegner der Red Devils wohl die Mannschaft der 1960er Jahre. Benfica – um WM-Torschützenkönig Eusebio.
Wembley erlebte auch einen Abnutzungskampf. Längst hingen Charltons Resthaare, die er verzweifelt noch über sein Haupt zu kämmen versuchte, zerzaust vom Seitenscheitel herab. Nach einer torlosen ersten Hälfte zählte zu Beginn der zweiten aber nur der Schädel an sich. Mit einem fulminanten Kopfball brachte Charlton United in Führung – und sprang, getrieben von Euphorie, so hoch, wie er es letztmals wahrscheinlich als 20-jähriges Nesthäkchen getan hatte.
Quasi mit Abpfiff hatte jedoch Eusebio, der im WM-Halbfinale noch gegen Charltons Engländer verloren hatte, plötzlich die riesengroße Siegchance auf dem Fuß. Torhüter Alex Stepney parierte, weil er sich Eusebios Abschlussverhalten aus einem Freundschaftsspiel gemerkt hatte. Ausgerechnet eines dieser Freundschaftsspiele, die United erst wieder groß gemacht hatten.
In der Verlängerung von Wembley konnte sich Benfica einer gewissen Vorbestimmung schließlich nicht mehr in den Weg stellen. Mit einem noch schöneren Tor als seinem ersten besorgte Manchesters Kapitän, zehn lange Jahre nach dem Unglück, den 4:1-Endstand.
Als der Schlusspfiff ertönte, fiel Charlton sogar Best in die Arme. Jetzt hatte das Nesthäkchen, das zum Mann geworden war, wirklich alles erreicht. Das fleischgewordene Versprechen, es war eingehalten worden. Von all der Last des 6. Februar 1958 wurde aber nicht nur Charlton befreit. Nur Monate später ritt Trainer Busby in den Sonnenuntergang.