Was passierte wirklich mit Ronaldo, ehe Zinedine Zidane Frankreich erstmals zum Weltmeister köpfte – und warum wurde “Zizou” das so leicht gemacht? Zehn Erkenntnisse zum WM-Finale 1998.
Bei der WM 1998 im eigenen Land wurde Frankreich zum ersten Mal Weltmeister – und Zinedine Zidane war der große Held. Eigentlich hätte das Weltfußballer Ronaldo für die Brasilianer sein sollen, der im Finale jedoch plötzlich nicht auf dem Spielberichtsbogen und schließlich nur als Schatten seiner selbst auf dem Rasen stand. Was ist damals in Paris eigentlich alles passiert?
Brasilien: Taffarel – Cafu, Junior Baiano, Aldair, Roberto Carlos – Cesar Sampaio (74. Edmundo), Dunga – Leonardo (46. Denilson), Rivaldo – Ronaldo, Bebeto.
Frankreich: Barthez – Thuram, Leboeuf, Desailly, Lizarazu – Karembeu (57. Boghossian), Deschamps, Petit – Djorkaeff (76. Vieira), Zidane – Guivarc’h (66. Dugarry).
Tore: 0:1 Zidane (27.), 0:2 Zidane (45.+1), 0:3 Petit (90.+3).
Platzverweis: Desailly (68. Gelb-Rot)
1. Von langer Hand geplant
Titelverteidiger Brasilien gegen Gastgeber Frankreich – ein “Traumfinale”. Das fand auch Michel Platini, der als Spieler 1984 zwar Europameister geworden war, den Franzosen aber keinen WM-Titel bescheren konnte. 14 Jahre später hatte er sich zumindest ein kleines bisschen revanchiert.
“Wir haben ein wenig getrickst”, gestand der umstrittene Funktionär zum 20. Jahrestag 2018 – und ihm glaubt man so etwas gerne. Brasilien war bei der Auslosung als Titelträger in Gruppe A gesetzt gewesen, Frankreich wurde daher in Gruppe C platziert – sodass beide, wenn sie ihre Gruppen gewinnen sollten, erst im Endspiel aufeinandertreffen konnten.
“Wir haben diese WM doch nicht sechs Jahre lang geplant, ohne ein bisschen herumzuspielen”, rechtfertigte sich Platini, der damals im Organisationskomitee gewesen war. “Glauben Sie, dass andere Gastgeber das nicht getan haben?”
2. Ronaldo
Es hätte sich auch so fast alles um Ronaldo gedreht, doch die Geschehnisse rund um den damals besten Spieler der Welt in den Stunden vor dem WM-Finale bleiben noch bald 25 Jahre später ein Mythos. Der Krampfanfall im Hotelzimmer, die aus dem Hals gezogene Zunge, das Fehlen seines Namens auf dem offiziellen Spielberichtsbogen, und schließlich stand er doch auf dem Platz – ohne wirklich auf dem Platz zu stehen.
Lag das wirklich am Sponsor Nike, der Druck gemacht haben soll? Druck verspürte Ronaldo ohnehin genug, so begründete der damals 21-Jährige seine selbst erklärte Panikattacke. Es ranken sich so viele Gerüchte um diesen seltsamen Nachmittag in Paris, bis hin zur Verabreichung eines Schmerzmittels gegen Ronaldos Kniebeschwerden, wobei die Spritze versehentlich eine Vene getroffen haben soll, die sie nicht hätte treffen dürfen – da es in diesen Fällen schon mal zu Krampfanfällen kommen konnte.
3. Guivarc’h
Brasilien trat also lediglich mit dem Schatten eines Mittelstürmers an – aber die Franzosen ja auch. Was Stephane Guivarc’h, immerhin amtierender Torschützenkönig der Ligue 1, im Stade de France anbot, war eigentlich eine Frechheit und mindestens so wild, wie es sich ins kollektive Fußballgedächtnis eingebrannt hat.
Schon in der ersten Hälfte vergab Guivarc’h im Finale der Weltmeisterschaft zwei riesige Chancen, beim zweiten Mal entstand daraus zumindest die Ecke zum 2:0. Nach zwei kläglich vergebenen Eins-gegen-eins-Situationen legte er im zweiten Durchgang, viel zu hastig, noch eine dritte nach. Ein grotesker Anblick, während die jungen Thierry Henry und David Trezeguet nur auf der Bank saßen.
Henry, der sich bereits aufgewärmt hatte, hätte im zweiten Durchgang übrigens eingewechselt werden sollen – wozu es wegen der gelb-roten Karte für Marcel Desailly aber nicht mehr kam.
4. Die Ecken
Durch das Drama um Ronaldo war Brasiliens Favoritenrolle (4-6 bei den Buchmachern, Frankreich 6-5) irgendwie hinfällig, in jedem Fall sah die Selecao gegen kollektiv wunderbar funktionierende und vor allem defensiv kompakte Franzosen kaum Land. “Auf jeder Busfahrt zum Stadion sangen und tanzten wir – aber diesmal war es anders”, ordnete Mittelfeldspieler Leonardo die Situation des Titelverteidigers ein – “es war sehr kompliziert, damit umzugehen”. Schlussendlich wärmten sich die Brasilianer noch nicht einmal richtig auf.
Dass der starke Zinedine Zidane, der bei der EM 2000 aber wesentlich besser spielte als 1998, das Finale durch zwei relativ einfache Eckball-Tore vorentscheiden konnte, hatte laut Leonardo ebenfalls mit der Ungewissheit rund um R9 zu tun. “Weil wir uns auf alle Situationen mit Edmundo vorbereitet hatten (Ronaldos angedachter Ersatz), hatte sich bei Ecken unsere Zuordnung geändert.” Laut Cesar Sampaio hätte ursprünglich sogar Ronaldo Zidanes direkter Gegenspieler sein sollen. Das Resultat war deutlich: Bei Zidanes erstem Treffer wurde auch Leonardo ohne Zugriff zum Beobachter degradiert.

5. Ronaldos Moment
Das einseitigste aller Spiele war das WM-Finale 1998 nun auch nicht. Es gab tatsächlich eine Phase – beim Stand von 0:2 -, in der es womöglich hätte kippen können. Nach der Pause hatte Trainer Mario Zagallo Dribbelkünstler Denilson gebracht, der das französische Abwehrbollwerk ein wenig durcheinanderwirbeln konnte. Mit Betonung auf ein wenig.
Nach ungefähr einer Stunde hatte nach einem Standard dann aber sogar Ronaldo seinen Moment, als er mit seinem Schrägschuss aus wenigen Metern am stark reagierenden Barthez scheiterte. Wenig später verschätzte sich der Schlussmann dann zwar gegen Bebeto, doch Desailly klärte vor der Linie. Anschließend fehlten der Selecao wieder Überzeugung und Chancen – in dieser Phase hätte etwas passieren müssen.
6. Ro-Ro
Im Jahr vor der WM in Frankreich, 1997, verfügten die Brasilianer über die beiden besten Stürmer der Welt: Ronaldo und den Helden von 1994, Romario – die auch noch außergewöhnlich gut miteinander harmonierten. “Ro-Ro” schossen die Selecao 1997 mit insgesamt 32 Toren (!) in 18 Pflichtspielen (Romario 18, Ronaldo 14) zu Copa America und Confederations Cup, in dessen Finale (6:0 gegen Australien) beide Stürmer einen Dreierpack schnürten.
Ausgerechnet im Endspiel der Weltmeisterschaft, als dem Rekordsieger die Durchschlagskraft komplett abging, stand er dann im Prinzip ohne seine zwei Ausnahmekönner da. Ronaldo war nicht im Vollbesitz seiner Kräfte, Romario hatte es wegen einer Verletzung und sonstiger Querelen gar nicht erst in den Kader geschafft. Hätte Frankreich dem Brasilien von 1997 gegenübergestanden, wäre es im Stade de France womöglich ganz anders gekommen.

7. Ausnahme Cafu
Um die Jahrtausendwende hatte Brasilien einen schier unerschöpflichen Vorrat an herausragenden Fußballern, was nicht zuletzt etwa einem Elber kaum eine Chance gab, wirklich Teil der Nationalmannschaft zu sein. Ein goldenes Zeitalter bestätigte die Selecao durch drei aufeinanderfolgende Teilnahmen an WM-Finals: 1994, 1998 und 2002 – zumindest zwei wurden gewonnen.
Der einzige Spieler, der bei allen drei Turnieren zum Einsatz kam, war Rechtsverteidiger Cafu. Außer ihm war 2002 nur noch Ronaldo von 1994 dabei, der in den USA allerdings keine Minute gespielt hatte. Ein weiterer Beweis dafür, wie schwer es damals war, das kanariengelbe Trikot zu tragen.
8. Roberto Carlos’ Déjà-vu
Die Nationalmannschaftskarriere des großen Roberto Carlos nahm bei der WM 2006 ein Ende mit Beigeschmack. Beim Viertelfinal-Aus gegen Frankreich richtete er sich lieber die Stutzen und schnaufte kurz durch als bei einem Freistoß in der zweiten Hälfte Thierry Henry zu verfolgen – der ungedeckt den Siegtreffer erzielte. Das kam in der Heimat natürlich gar nicht gut an.
Schon acht Jahre zuvor war der Leichtsinn des legendären Linksverteidigers der Selecao gegen den gleichen Gegner zum Verhängnis geworden. Beim Stand von 0:0 wollte Roberto Carlos den Ball an der eigenen Eckfahne – jonglierend – nur allzu lässig klären, was in einer Situation ohne den ganz großen Druck gar nicht nötig gewesen wäre. Das vermeidbare Vorhaben missglückte und bescherte den Franzosen die erste Ecke, die Zidane den Brasilianern um die Ohren köpfte.
9. Der Fluch von 1958
Brasilien, das ist die Fußballnation schlechthin – spätestens seit dem WM-Durchbruch der Selecao 1958 in Schweden. Damals hatten sich der erst 17-jährige Pelé, Garrincha und Co. im Halbfinale gegen talentierte Franzosen um Raymond Kopa oder Just Fontaine durchgesetzt, sogar relativ deutlich mit 5:2.
Diese Deutlichkeit hatte allerdings einen Grund: Weil sich der französische Kapitän Robert Jonquet im Zeitalter vor der Möglichkeit von Auswechslungen so schwer verletzte, dass Frankreich über 50 Minuten effektiv zu zehnt spielen musste, wurde aus einem ausgeglichenen 1:1 erst dieses deutliche Ergebnis. Es hätte vielleicht auch anders kommen können.
Für ihren ersten WM-Titel mussten die Brasilianer seither – zumindest durch französische Hand – teuer bezahlen: Alle Pflichtspiele dieser beiden Nationen gingen nach 1958 an die Equipe Tricolore, was der Selecao ein paar bittere Niederlagen bescherte. Bei der WM 1986 machte Frankreich die letzte Chance von Brasiliens unvollendeter Generation um Socrates und Zico zunichte, 2006 erfuhren Ronaldo, Ronaldinho und Co. das gleiche Schicksal. Und 1998 eben die Pleite im größten aller Spiele.
10. Der letzte Heimsieg
Seit den 1970er Jahren, als das der BRD und Argentinien gelungen war, ist Frankreich die einzige und daher letzte Nation, die als Gastgeber den WM-Titel feiern durfte. Ein Vierteljahrhundert ist das bald her.
Zwar konnte man seit 1998 wohl nur Deutschland 2006 und Brasilien 2014 – beide scheiterten im Halbfinale – den ganz großen Coup zutrauen. Ein Nachfolger für die Mannschaft um Kapitän Didier Deschamps dürfte aber wahrscheinlich auch in näherer Zukunft nicht gefunden werden.