Kaum war das WM-Finale 2022 zwischen Argentinien und Frankreich nach über 120 Minuten plus Elfmeterschießen abgepfiffen, wurde es von vielen Seiten schon zum besten “aller Zeiten” erklärt. Ich glaube: zu Unrecht.
Lionel Messi ist Weltmeister. Argentinien natürlich auch, aber vor allem er, es war die Krönung einer außergewöhnlichen Karriere. Es war der letzte Titel, der gewissermaßen noch von ihm gefordert wurde. In einem Finale gegen einen anderen Superstar in Kylian Mbappé, der mit einem Dreierpack beinahe für die erste WM-Titelverteidigung seit 60 Jahren gesorgt hätte. 2:2, Verlängerung, 3:3 – und dann Elfmeterschießen. Viele – sowohl beiläufige Beobachter als auch renommierte Journalisten – wollen daher das “beste Finale aller Zeiten” gesehen haben. Zumindest ab der 80. Minute.
Streng genommen beinhalten alle Zeiten auch die, die noch kommen werden. Doch selbst wenn man diesen Terminus so versteht, wie er verstanden werden soll, ist dessen Verwendung ziemlich kompliziert. Haben diese Leute wirklich alle WM-Endspiele gesehen? Meines Wissens nach ist kein Finale vor 1958 der (digitalen) Öffentlichkeit überhaupt zugänglich. Der berühmte Showdown von 1954 existiert in voller Länge zumindest als Tonspur – auf dieser Basis habe zum “Wunder von Bern” einen ausführlichen Spielbericht geschrieben.
Das Spiel in seiner Gänze ist sogar unterschätzt
Bei all der berechtigten Begeisterung nach dem Finale 2022 musste ich direkt daran denken, dass ich das Endspiel von 1954 – ohne es zum “besten WM-Finale aller Zeiten” erklären zu wollen – noch immer für besser halte. Zwar vertrete ich rund um Deutschlands ersten Stern eher die unpopuläre Meinung, dass das “Wunder” gar nicht so sensationell war, wie man es hierzulande meistens zu hören bekommt. Dafür spielte den Deutschen, die ja immerhin gut genug waren, um ein WM-Finale zu erreichen, von Wetter und Schuhwerk über Spielglück bis hin zu Schiedsrichterentscheidungen einfach zu viel in die Karten.
Dennoch glaube ich, dass die objektive Tragweite und besonders die sportliche Qualität des Endspiels von Wankdorf im Schatten des “Wunders” bisweilen unterschätzt werden. Warum das WM-Finale 1954 das beste war, mit dem ich mich bisher intensiv genug auseinandersetzen konnte.

Die Vorgeschichte gehört ja irgendwo dazu, und schon die hatte es in sich. Auf der einen Seite stand der quasi designierte Weltmeister, Ungarns “goldene Elf”. Die “magischen Magyaren” hatten viereinhalb Jahre kein Spiel mehr verloren, 1952 Olympia-Gold und 1953 einen Vorläufer der heutigen EM gewonnen. Am 25. November 1953 führten die Ungarn dann sogar England in Wembley vor – auch die letzten Zweifel waren beseitigt. Eine der besten Mannschaften, die es jemals gab – um Ferenc Puskas, einen der besten Spieler, die es jemals gab – wartete bei der WM 1954 in der Schweiz nur noch auf ihre Krönung.
Nach dem 4:2 n. V. über Titelverteidiger Uruguay – lange Zeit galt dieses Spiel als das Fußball-Spektakel schlechthin -, eingefahren sogar ohne den angeschlagenen Puskas, wartete im großen Finale ausgerechnet die Bundesrepublik Deutschland, der Ungarn bereits in der Gruppenphase begegnet war. Und die es 8:3 zerpflückt hatte. Zudem war Deutschland damals ja nicht irgendein Gegner.
Nach den Verbrechen des Nationalsozialismus durfte man erstmals wieder an einer WM teilnehmen, gesellschaftlich lag man eigentlich noch am Boden. Die Vorgabe aus der Heimat war, sich einfach nicht zu blamieren – nach dem 3:8 im ersten Spiel gegen Ungarn erreichten Bundestrainer Sepp Herberger Morddrohungen ausgefallenster Art. Doch plötzlich stand Deutschland, um Ausnahmekönner Fritz Walter, im Finale der Weltmeisterschaft. Gegen die Übermannschaft des Fußballs. Es war angerichtet.
Schon in der Anfangsphase steckte alles
Die sportliche Besonderheit des Endspiels von 1954 entfaltete sich schon in den ersten Minuten. Denn die Ungarn spazierten nach ihren “Schlachten” gegen Brasilien und Uruguay nicht einfach zum ihnen versprochenen Titel. Vielmehr begegnete David Goliath – so extrem war es aber wie gesagt auch nicht – mit frech gezücktem Stein. Außenseiter Deutschland legte los wie die Feuerwehr, verpasste die frühe Führung durch Großchancen von Morlock (3.) und Schäfer (5.) knapp. Abtasten war nicht. Im regnerischen “Fritz-Walter-Wetter” erschien eine Überraschung möglich, das wollten die Deutschen von Beginn an ausstrahlen.
Dann mischte sich die “goldene Elf” ein, drehte die beste Mannschaft der Welt auf. Über die zweite Welle des ersten ernsthaften Angriffs brachte der rechtzeitig fit (genug) gewordene Superstar Puskas Ungarn in Führung (6.). Nur zwei Minuten später leisteten sich auf deutscher Seite Verteidiger Kohlmeyer und Torhüter Turek einen derart haarsträubenden Abstimmungsfehler, dass Czibor unbedrängt zum 2:0 einschieben konnte. Bereits nach acht Minuten war Deutschlands starker Auftakt plötzlich hinfällig; ging es auf einmal darum, ob es ein zweites 8:3 gibt, ob Deutschland jetzt auseinanderfällt.
Von wegen. Es dauerte wieder nur zwei Minuten bis Deutschlands Rebell, Rechtsaußen Rahn, auf links auftauchte und in die Mitte schoss. Morlock warf sich in dessen abgefälschte Schussflanke und stellte in der 10. Minute auf 1:2. Deutschland spielte einfach weiter, und Ungarn auch. Mit einer ersten Rettungsaktion gegen Puskas begann auch Deutschlands Mittelläufer Liebrich ein großes Spiel zu machen (12.); Czibor hatte die Großchance zum 3:1 (16.). Stattdessen besorgte Rahn nach einer Ecke umstritten – denn Schäfer foulte Ungarns Keeper Grosics – das 2:2 (18.). In dieser Anfangsphase steckte alles.
Deutschland hatte der Fußball-Übermacht die Stirn geboten, die das nicht auf sich sitzen lassen wollte. Doch Liebrich warf sich in den nächsten Puskas-Schuss, und Turek parierte Hidegkutis Sechs-Meter-Volley mit einer Glanztat (“Teufelskerl, Fußballgott”, 24.). Weil Hidegkuti drei Minuten später auch am Pfosten scheiterte, blieb die (An-)Spannung in Wankdorf Dauergast. Vor allem, als sich die Deutschen zurückmeldeten und Buzanszky Rahns Schuss auf der Linie retten musste (42.). Mit 2:2 ging es in die Pause, in der die internationale Pressetribüne in Bern, wie Radio-Reporter Herbert Zimmermann berichtete, plötzlich alles für möglich hielt.
Eine Umstellung und zwei Rettungstaten
Der Kelch der Dramaturgie ging auch an Ungarns Trainer Gusztav Sebes nicht vorüber, der sich bei seiner Aufstellung verspekuliert hatte. Dass die unschlagbaren Ungarn Probleme hatten, lag auch daran, dass Sebes auf seinen Rechtsaußen Budai verzichtet und stattdessen Linksaußen Czibor auf rechts gestellt hatte. Links spielte ziemlich überraschend Ersatzmann Toth. Zur zweiten Hälfte ließ Sebes Czibor und Toth jedoch ihre Positionen tauschen – und die beste Mannschaft der Welt spielte sich in einen Rausch.
Nachdem Hidegkuti (49.) und Spielmacher Bozsik (50.) mit zwei sehenswerten Fernschüssen nur knapp gescheitert waren, hatte Toth eine riesige Doppelchance – ausgerechnet Kohlmeyer, beim 0:2 noch tragische Figur, rettete für Turek zweimal auf der Linie (55.). Wenig später köpfte WM-Torschützenkönig Kocsis – es war ein Finale mit vielen Protagonisten – aus schier unmöglichem Winkel an den Querbalken (58.). Ungarn spielte die Deutschen an die Wand, die diese Druckphase dennoch irgendwie überstanden. Auch weil Superstar Puskas im Abschluss schlampiger und Turek gefühlt unüberwindbarer wurde (68.).
Offensiv bekam die Herberger-Elf schließlich dank zweier Abschlüsse von Rahn wieder einen Fuß in die Tür (73., 74.), die Czibor beinahe trotzdem zugeschlagen hätte. Doch Turek warf sich heroisch ins Eins-gegen-eins, das er trotz in Kauf genommener Kollision gewann. Hidegkutis Nachschuss landete am Außennetz, als die Zeit langsam immer knapper wurde (79.). Auch für Deutschland, das sich während Tureks Behandlungspause noch einmal Mut zuredete.

Tragisch war es, dass Ungarns an diesem Tag wohl bester Spieler, Bozsik, in der 85. Minute den Ball verlor. Daraufhin flankte Schäfer, legte sich Rahn den Ball clever von rechts auf links – und führte plötzlich Deutschland. Der große Favoritensturz lag in der Luft, dem sich die “magischen Magyaren” allerdings nicht einfach so hingaben. Im Gegenteil. Sie warfen alles nach vorne, Puskas schoss schon in der 87. Minute das vermeintliche 3:3 – Abseits. Eine Fehlentscheidung, wie selbst Deutschlands Bankdrücker Pfaff später jahrelang einräumte. Kaum zu überbietende Dramatik.
Erst nach zwei weiteren Turek-Paraden gegen Hidegkuti (88.) und Czibor (90.) – letztere erneut aus wenigen Metern – war Deutschland die sportliche Sensation geglückt. Erstmals nach viereinhalb Jahren hatte Ungarn ein Spiel verloren, das Finale der Weltmeisterschaft. Die Ungarn schrieben dieser Niederlage auch eine Mitschuld am brutalen Volksaufstand zwei Jahre später zu, einige Stars wie Puskas kehrten daraufhin nicht mehr in ihre Heimat zurück. In Deutschland wiederum war der erste WM-Titel von 1954 so etwas der eigentliche Gründungstag der Bundesrepublik. Mindestens.