Im Sommer 1984 spielte die SSC Neapel nicht um die Meisterschaft, sondern gegen den Abstieg. Dann kam Diego Maradona.
Das Klirren des berstenden Vitrinenglases muss in den Ohren sämtlicher Vereine wie Musik geklungen haben, als Diego Armando Maradona – wenn der Stuhl je wirklich flog – vom Gehabe der piekfeinen Katalanen endgültig genug hatte. Und eine weitere Zusammenarbeit mit dem FC Barcelona unmöglich machte.
Doch es war nicht jedermanns Lieblingslied. Bei den in einer Massenschlägerei endenden Entgleisungen im zurückliegenden Pokalfinale hatte der 23-jährige Argentinier einmal mehr bewiesen, dass man mit ihm nicht nur den begabtesten Balltreter der Welt bekam.
So sehr der Junge aus Villa Fiorito, einem verarmten Randbezirk von Buenos Aires, mit dem vornehmen Barca nie richtig zusammenfinden wollte, so gut schien er, auf der Suche nach einer nicht nur sportlichen Heimat, zu seinem nächsten Arbeitgeber zu passen. Und doch passte es so gar nicht: Im Sommer 1984 wechselte der beste Fußballer der Welt in die beste Liga der Welt – zur SSC Neapel, die wenige Wochen zuvor beinahe abgestiegen wäre.
Neapel war eine Hochburg des armen italienischen Südens, der fußballerisch, vor allem aber sozial vom reichen Mailänder und Turiner Norden höchstens noch die Hacken sah – und dafür leidenschaftlich gerne verspottet wurde. Die ganze Stadt war völlig aus dem Häuschen als Maradona, dessen surrealer Wechsel angeblich auch von der örtlichen Mafia beeinflusst worden war, am 5. Juli 1984 im Stadio San Paolo präsentiert wurde. Und dann trat er, zunächst verdeckt von einer faszinierten Fotografenschar, wirklich hinaus auf ihren Rasen. Über 70.000 Partenopei war der Heiland erschienen.

Nach dem Vergnügen begann die Arbeit, von der sich ein gewaltiger Berg vor dem 1,66 Meter kleinen “Pibe de oro”, dem Goldjungen, aufbaute. Italienische Abwehrkünste und Claudio Gentile hatte Maradona schon bei der WM 1982 kennengelernt – aber hier rennen auch Typen wie Hans-Peter Briegel rum? Gegen Ivan Dragos pfälzischen Brieffreund und den kommenden Meister Hellas Verona erlebte Diego seinen “Willkommen in der Serie A”-Moment.
Mit dem Brasilianer Dirceu und einem alternden Ruud Krol hatte sich kurz vor Maradonas Ankunft auch die letzte Prominenz aus Neapel verzogen, sodass sich der Hoffnungsträger (“Wir waren ein Serie-B-Team”) nun etwa in einer Situation wiederfand, als würde man eines Morgens Lionel Messi wecken und ihm erklären, dass er jetzt übrigens beim FC Burnley spielt.
David Maradona ging sein Goliath-Projekt allerdings ziemlich optimistisch an und versprach den Neapolitanern, die zuvor noch nie eine gewonnen hatten, tatsächlich die Meisterschaft.
Dafür musste Diego ackern, und zwar überall auf dem Feld. Keine Allüren, stattdessen Pflichten – von der Grätsche am eigenen Strafraum bis zum Abschluss im gegnerischen. In seiner ersten Saison führte Maradona die SSC, dank individueller Ausnahmeauftritte wie gegen Lazio, zumindest auf Platz acht. 1985/86 ging er, die hochstilisierte Galionsfigur des Südens, auf Rachefeldzug.
Wann immer Napoli in den Norden gefahren war, hatte Diego die tiefe Verachtung am eigenen Leib gespürt. Besonders in Verona waren sie mit “Wascht euch”- und weitaus übleren Bannern empfangen worden. Meister Hellas bekam so richtig sein Fett weg. Im Stile von Michael Jordan, schrieb Emmet Gates später im “Guardian”, ließen all die Anfeindungen Maradona umso mehr über sich hinauswachsen. Die SSC schlug Verona vernichtend mit 5:0 – und nur Wochen später sollte der kleine Vesuv, das Stadio San Paolo, ein erstes Mal explodieren.
Kein Nordklub war in Neapel so verhasst wie das große Juve, Europas amtierender Champion um Ballon d’Or-Sieger Michel Platini. Am 3. November 1985 traten die Bianconeri in der Hauptstadt des Südens an, wo Maradona Platini in den Schatten stellte und Napoli mit einem traumhaften Freistoß zum ersten Sieg über die Turiner nach zwölf Jahren Wartezeit schoss. Etliche Zuschauer jubelten sich in Ohnmacht, zwei erlitten eine Herzattacke. Die SSC, die zwei Jahre zuvor nur ein einziger Punkt vom Abstieg getrennt hatte, beendete Maradonas zweite Saison in Italien als Dritter.
Eine Auszeit nach seinem Husarenritt konnte der Linksfuß allerdings vergessen. Im Sommer 1986 stand eine WM an, vor der die Argentinier aus der Heimat höchstens Skepsis ernteten. Das Team von Pragmatiker Carlos Bilardo – und auch Maradona, der nach 1982 und seiner Leidenszeit bei Barca fast drei Jahre nicht für Argentinien gespielt hatte – stand schwer in der Kritik. Zugetraut wurde “Diego + 10” in Mexiko kaum etwas. Jetzt solle er für die Albiceleste mal bitte so spielen wie für Napoli. Motivation genug für den Kapitän.
Im vermeintlich angenehmen Auftaktspiel gegen Südkorea, als er beim 3:1 alle drei Tore vorbereitete, wurde Maradona von seinen Gegenspielern regelrecht malträtiert. Aber das kannte er ja schon. Auch gegen Titelverteidiger Italien blieb er ruhig, er schien aus seinen Ausrastern gelernt zu haben. Diego rächte sich sportlich und traf zum 1:1-Endstand.
In einem besseren Durchschnittsteam, das zwar defensiv sehr solide war und mit Jorge Valdano über einen Stürmer verfügte, der trotz vergebener Großchancen immerhin vier Tore schoss, musste Maradona für eine Erfolgschance – ähnlich wie in Neapel – die Offensive fast alleine schmeißen. Der Freigeist bekam Bälle teilweise in der eigenen Hälfte, trieb sie auf kaum gemähten oder gar bewässerten Äckern nach vorne; er flankte von links, dribbelte über rechts und tankte sich durch die Mitte.
Eine weitere Vorlage beim 2:0 über Bulgarien sicherte Argentinien den Gruppensieg. Im Achtelfinale gegen Uruguay war Maradona dann bereits so sehr in Fahrt gekommen, dass er über sämtliche Grätschen einfach hinwegsprang.
Binnen dreieinhalb Minuten im Viertelfinale gegen England machte sich das wahnsinnige Genie unsterblich. “Hand Gottes” und “Tor des Jahrhunderts” überstrahlten eine Partie, die vor Maradona-Highlights nur so strotzte. Und doch war das Halbfinale gegen Belgien, als er wieder beide Tore schoss, womöglich die beste Partie, die Diego jemals spielte. “Sie hatten keinen guten Tag”, erinnert sich Gegenspieler Enzo Scifo. “Aber sie hatten Maradona.”
Im Finale warteten schließlich die tugendtreuen, teutonischen Deutschen, die vermeintlich ebenso wenig in dieses Endspiel gehört hatten und die sich auch durch eine argentinische 2:0-Führung nicht abschütteln ließen. 2:2. Einfach so. Doch fünf Minuten vor Schluss schlug Maradona, der von einer doppelten Manndeckung bis dato erstaunlich erfolgreich bearbeitet worden war, einen Steilpass. In den Lauf von Jorge Burruchaga, der ausgerechnet “Ivan” Briegel davonlief und den 3:2-Endstand besorgte. Zwei argentinische Journalisten scheiterten denkbar knapp mit ihrer Initiative, Buenos Aires in Maradonia umzubenennen.
Jetzt also endlich mal durchschnaufen? Maradona hatte sich zum unumstrittenen König der Fußballwelt aufgeschwungen, doch er dachte erst gar nicht daran, die Füße hochzulegen. Sein Versprechen würde sich schließlich nicht von selbst einlösen.
Mit den Verpflichtungen von Arbeiter Fernando De Napoli und Knipser Andrea Carnevale waren Neapel zwei Transfer-Coups gelungen. Angetrieben von Maradona, der einfach da weitermachte, wo er in Mexiko aufgehört hatte, verlor die SSC von ihren ersten 22 Spielen nur eines.
Nach zwei Siegen über das verhasste Juve glückte das Meisterstück im Heimspiel gegen Milan. Maradona erhielt einen hohen Steilpass aus dem Halbfeld, umkurvte Milans letzten Verteidiger und Torhüter mit zwei perfekten Kontakten – und schob aus spitzem Winkel ein. Am 10. Mai 1987, nach einem 1:1 gegen die Fiorentina, läuteten in ganz Neapel die Glocken.
Einfache Arbeiter, so sie denn Arbeit hatten, stellten die Stadt auf den Kopf, machten die Nacht zum Tag. Woche für Woche schufteten sie, um am Sonntag ihr geliebtes Napoli zu sehen, das dennoch chancenlos blieb gegen die großen Teams aus dem Norden; das noch nie eine Meisterschaft gewonnen hatte. Und plötzlich kam dieser argentinische Robin Hood, der wie sie doch nur ein Junge aus der Gosse war, und stahl den Reichen den Scudetto. Um ihn den Armen zu schenken.
“Uns fehlt das Geld für Häuser, Schulen, Busse, Arbeitsplätze und Sanitäranlagen – aber das alles ist egal, denn wir haben Maradona”, titelte eine Tageszeitung im Taumel der Euphorie. “Die Meisterschaft war eine soziale Erlösung”, berichtete Eigengewächs Ciro Ferrara, der in Neapel aufgewachsen war und es wissen musste. “Dank Diego hielt sie ein paar Jahre an.”
“Jetzt müssen sich selbst meine Zweifler eingestehen, dass ich der Beste bin”, frohlockte Maradona, der noch eine saftige Kirsche auf die neapolitanische Sahnetorte schoss: In der Coppa Italia gewann die SSC alle 13 Spiele. Double. Napoli. “Ihr wisst ja nicht, was ihr verpasst habt”, stand auf einem Banner, das in diesen Tagen einen örtlichen Friedhof zierte. In Neapel war Diego Armando Maradona fortan Gott.

Zur Saison 1987/88 bekam Gott mit Brasiliens Starstürmer Careca einen kongenialen Partner zur Seite gestellt. Angeführt von Torschützenkönig Maradona entwickelte sich das einst dreckige Napoli unweigerlich zu einer Spitzenmannschaft. Doch auf dem Weg zur Titelverteidigung ging den Partenopei im letzten Moment die Puste aus, hinter Arrigo Sacchis revolutionärem Milan wurde die SSC Vizemeister. So auch ein Jahr später hinter Inter um Lothar Matthäus und Trainer Giovanni Trapattoni. Die beste Liga der Welt.
Dennoch war es Maradona gelungen, noch einmal einen draufzusetzen. So düpierte er etwa Sacchis Milan, das 1988/89 vielleicht besser spielte als jedes italienische Team zuvor. “Er hat oft gegen uns getroffen”, schmunzelte dessen Abwehrchef Franco Baresi. “Wir mussten ihn organisiert unter Druck setzten, manchmal mit drei Mann. Aber wenn er einen guten Tag hatte, konntest du ihn sowieso nicht stoppen.” Das erfuhr 1989 auch die internationale Konkurrenz, als Neapel in Form des damals noch wesentlich besser besetzten UEFA-Cups nach Siegen über Bayern und Stuttgart auch noch einen Europapokal gewann.
Diego Armando Maradona hatte ein Kellerkind, während er Argentinien die Weltmeisterschaft bescherte, binnen fünf Jahren aus der verbitterten Tristesse ins gelobte Land geführt. Vielleicht war es sogar seine größte Leistung – obwohl Präsident Corrado Ferlaino das Versprechen gebrochen hatte, Maradona im Falle eines Europapokalsieges gehen zu lassen -, 1990 noch ein zweites Mal Meister zu werden.
Wie sehr ihn seine Drogensucht zu diesem Zeitpunkt schon im Griff hatte; wie man seinen auch vom Fußball geschundenen Körper vor jedem Spiel fit spritzen musste, zeigte eindrücklich der mehr als empfehlenswerte Dokumentarfilm von Asif Kapadia. “Was für ein Spieler ich gewesen wäre, wenn ich kein Kokain genommen hätte”, haderte dessen Protagonist 2008. Einerlei.
Mit all seinen Lastern, ob 1987 oder drei Jahrzehnte später: Wann immer der “D10S” durch die Straßen Neapels flanierte, vorbei an all seinen Gemälden und Altaren, schlossen links und rechts die Geschäfte. Menschenmassen scharten sich um einen gedrungenen, von seinen Krankheiten gezeichneten Mann, manche Jünger wollten sogar seinen magischen linken Fuß küssen. Dann war es immer noch mal so, als wäre Napoli eben erst Meister geworden, was der SSC nach Diegos überstürztem Abgang 1991 bis 2023 nicht mehr gelingen sollte, als der “Göttliche” bereits ins Himmelreich aufgestiegen war. Doch noch immer nehmen sich wildfremde Menschen in den Arm und fangen lauthals an zu singen:
“Oh mamma mamma mamma, oh mamma mamma mamma, sai perché mi batte il corazon, ho visto Maradona, ho visto Maradona, ué mammà, innamorato so'”. Oh Mama, weißt du, warum mein Herz so schlägt? Ich habe Maradona gesehen, oh Mama, ich bin ja so verliebt.
Musik in den Ohren eines jeden Neapolitaners. Es bleibt ihr Lieblingslied, für immer.