Am 28. Mai 1997 gewann Borussia Dortmund, klarer Außenseiter gegen Titelverteidiger Juventus Turin, als erster deutscher Klub die Champions League. Wie der “Alten Dame” das passieren konnte.
Champions-League-Sieger BVB, das hat im Frühsommer 1997 doch einige überrascht. Unter Trainer Ottmar Hitzfeld, zwar mit einer individuell ziemlich stark besetzten Mannschaft, aber gegen einen Gegner, der in vielen Augen das damals beste Team Europas war. Warum ein defensiv geradezu geniales Juve am Ende drei Gegentore kassierte und wie viele Sekunden nach seiner Einwechslung Lars Ricken brauchte – zehn Erkenntnisse:
Dortmund: Klos – Sammer – Kohler, Kree – Reuter, Lambert, Paulo Sousa, Heinrich – Möller (89. Zorc) – Riedle (67. Herrlich), Chapuisat (70. Ricken).
Turin: Peruzzi – Porrini (46. Del Piero), Ferrara, Montero, Iuliano – Di Livio, Deschamps, Jugovic – Zidane – Boksic (88. Tacchinardi), Vieri (73. Amoruso).
Tore: 1:0 Riedle (29.), 2:0 Riedle (34.), 2:1 Del Piero (64.), 3:1 Ricken (71.).
1. Der Fluch des Henkelpotts
Auch wenn die Champions League in puncto Konkurrenz wohl schwieriger zu gewinnen ist als ihr Vorgänger, der Europapokal der Landesmeister, tauchten in den ersten Jahren ihrer Existenz – ab 1992/93 – immer wieder gleiche Mannschaften in den Endspielen auf.
Nach Milan 1995, das als Titelverteidiger Ajax unterlag und Ajax 1996, das als Titelverteidiger Juventus unterlag, erwischte es auch die Bianconeri, als diese 1997 ins Endspiel zurückkehrten. Und 1998 übrigens auch. Die erste Titelverteidigung im neuen Wettbewerb sollte 2017 erst Real Madrid gelingen – dann aber gleich zweimal.
2. Großer Hunger, kleiner Hunger
Der BVB und Juve befanden sich vor dem CL-Finale 1997, das beide ganz unabhängig jeglicher Umstände sicherlich sehr gerne gewonnen hätten, an ziemlich entgegengesetzten Punkten. Dortmund hatte 1995 und 1996 die deutsche Meisterschaft gewonnen, die vor dem 97er-Endspiel bereits futsch war. Der Henkelpott war der Titel, auf den die Borussia zu diesem Zeitpunkt ohnehin den größeren Hunger verspürte.
Die Alte Dame hatte die CL hingegen erst im Vorjahr gewonnen und war nach der verpassten Meisterschaft 1996 im Folgejahr erst einmal darauf bedacht, den Scudetto, den italienischen Titel einzufahren. Wenige Tage vor dem CL-Endspiel gelang das auch – es folgten angeblich Feierlichkeiten, die die Bianconeri ziemlich beansprucht haben sollen.

3. Libero vs. Viererkette
Das Jahr war 1997, selbst relativ traditionelle italienische Trainer wie Marcello Lippi spielten inzwischen ohne Libero, da bot Hitzfelds BVB noch einen auf. Gut, nicht irgendeinen. Matthias Sammer war amtierender Europameister und Ballon-d’Or-Sieger, zwischen den ziemlich manndeckenden Martin Kree und Jürgen Kohler aber noch ein Ausputzer der alten Schule – wenn auch mit Beckenbauer’schen Offensivakzenten.
Juve hingegen vollführte im Frühsommer 1997 schablonenartig, wie effektiv eine Viererkette sein konnte. Als Einheit, mal hoch und mal tief verteidigend, ließ Lippis personell sehr variable Kette Ajax im Halbfinale und über weite Strecken auch Dortmund im Finale kaum den Hauch einer Chance, in Strafraumnähe so etwas wie Gefahr zu erzeugen. Juves Defensivkonstrukt hatte jedoch eine andere Schwäche – dazu später mehr.
4. Keine Rücksicht auf Del Piero
Lippi hatte in seinem Juve der mittleren und späten 90er zwar ziemlich feste Positionen, im Sinne der auf den jeweiligen Gegner angepassten Taktik aber kein festes Personal. Während der in Coverciano geformte Fußballlehrer in der Abwehr selbst linke und rechte Außenverteidiger tauschte, setzte er sein Sturmduo personell immer so zusammen, wie es für den anstehenden Gegner am besten passte. Profil und Attribute gingen da regelmäßig vor vermeintlicher Form oder Qualität.
Lippis bestes Duo (als Duo) war zu dieser Zeit der den Ball stark halten und verarbeiten könnende Alen Boksic und der physisch robuste und in der Luft starke Christian Vieri. Diese beiden starteten auch im Endspiel, selbst wenn Alessandro Del Piero, der sich längst als Leistungsträger bewiesen hatte, wohl der verheißungsvollste Spieler im Kader war.
So schmorte der 22-Jährige zunächst auf der Bank, ehe er zur zweiten Hälfte eingewechselt wurde, Juves einzigen Treffer erzielte – ein herrliches Hackentor – und Lippi mit der Überlegung zurückließ, ob er Del Piero nicht vielleicht doch lieber von Anfang an gebracht hätte.
5. Juves Schwächen, Juves Klagen
Durch Juves hochfunktionale Viererkette, eine Raute davor (4-3-1-2) und die Tatsache, dass all diese Spieler enorm zweikampf- und laufstark waren, kontrollierten die Italiener die Partie defensiv und offensiv nahezu komplett. Dass Borussia Dortmund, dessen 3-4-1-2-Formation oft nicht eng genug beisammen war, aus dem Spiel heraus ein Tor gelingen könnte, deutete sich über weite Strecken überhaupt nicht an. Aber es gibt ja auch andere Wege.
Über die rechte Abwehrseite von Juves Ersatzmann Sergio Porrini, der sich als Schwachstelle entpuppte, holte der BVB nach grob einer halben Stunde zumindest zwei Ecken heraus, durch die Juves schier unüberwindbare Defensive binnen fünf Minuten gleich zweimal überwunden wurde – Doppelpack Karl-Heinz Riedle. Hier stellten sich die Turiner nachlässig an, hier hatten sie auch im Halbfinal-Rückspiel gegen Ajax einen leichten Gegentreffer kassiert. Eine weitere Schwachstelle, die die Bianconeri im Endspiel entscheidend kostete.
Aus der Sicht des italienischen Rekordmeisters hatte die unerwartete Niederlage jedoch auch Ursachen, auf die sämtliche Spieler keinen Einfluss ausübten. Reuter früh in der ersten Hälfte an Jugovic, Kohler früh in der zweiten an Del Piero – Juve hätte gerne mindestens einen Elfmeter gehabt. Oder Vieris 1:2 kurz vor der Pause, das wegen eines vermeintlichen Handspiels nicht gegeben wurde. Oder dass Zidanes und Vieris Alu-Treffer in eine andere Richtung abgeprallt wären. Sagen wir mal so: Es hätte für Dortmund auch unglücklicher laufen können.
6. Lambert wie Rolff
Der Fluch der guten Tat. So in etwa muss sich Zinedine Zidane vorgekommen sein, als er ins CL-Finale 1997 startete. Nach Juves brillanter Leistung im Halbfinal-Rückspiel – beim 4:1 gegen Ajax überragte Zidane – bekam der französische Spielgestalter gegen den BVB einen unerbittlichen Bewacher zugeteilt.

Paul Lambert wich Juves Zehner nicht von der Seite und schränkte dessen im 4-3-1-2 für die Turiner essenziellen Wirkungskreise entscheidend ein – sogar in einigen Schlüsselmomenten im Umschaltspiel. Ein entscheidender Kniff, eine starke Leistung von Lambert.
Manch Juventino mag sich sogar an das Landesmeister-Endspiel von 1983 erinnert gefühlt haben, als die Alte Dame mit dem HSV schon einmal einem deutschen Gegner unterlag – weil Kettenhund Wolfgang Rolff Michel Platini aus dem Spiel genommen hatte.
7. Sousa wie Laudrup
Die Champions League zu verteidigen, aber mit unterschiedlichen Klubs – das gelang bisher erst vier Spielern. Zum erstmöglichen Zeitpunkt gleich Marcel Desailly (1993 mit Marseille, 1994 mit Milan), später folgten Gerard Piqué (2008 mit ManUnited, 2009 mit Barcelona) und Samuel Eto’o (2009 mit Barcelona, 2010 mit Inter).
1997 verteidigte Dortmunds Dirigent Paulo Sousa den Henkelpott, das jedoch – im Stile von Michael Laudrup, der den Clasico binnen zwölf Monaten auf beiden Seiten 5:0 gewonnen hatte – in ganz besonderer Manier: 1996 hatte der Portugiese Europas größten Vereinstitel mit Juve errungen, ein Jahr später dann mit dem BVB – gegen den vorigen Arbeitgeber. Piqué wiederholte das zwar gewissermaßen 2009, Paulo Sousa hatte in beiden Endspielen aber auch (von Beginn an) auf dem Platz gestanden.
8. Rickens Absicht
Lars Ricken, als etablierter Schütze wichtiger Tore zu diesem Zeitpunkt längst über den Status des unbeschwerten Youngsters hinausgewachsen, hatte am 28. Mai 1997 nicht nur ungeduldig mit den Hufen gescharrt, weil er seinen Bankplatz nach, klar, wichtigen Toren in Viertelfinale und Halbfinale wahrscheinlich nur bedingt nachvollziehen konnte.
Dass der damals 20-Jährige den Ball tatsächlich mit seinem ersten Kontakt nach gerade einmal 16 (!) Sekunden in die Turiner Maschen hob, hatte nämlich herzlich wenig mit Zufall zu tun. Vom Spielfeldrand aus habe er immer wieder beobachtet, wie Juve-Keeper Angelo Peruzzi bei Angriffen seiner Vorderleute zu weit vor seinem Kasten stand – auf eine ganz bestimmte Idee hatte Ricken von keinem Marcel Reif gebracht werden müssen.
Und wer muss schon in der Startaufstellung stehen, wenn er ein CL-Finale auch in einer Viertelminute entscheiden kann? Einfach mal luppen.
9. Sammers Ende
Deutscher Meister 1995 und 1996, in beiden Jahren auch Deutschlands Fußballer des Jahres. Europameister 1996, Ballon-d’Or-Gewinner 1996, Champions-League-Sieger 1997 – mit 29 Jahren war Matthias Sammer auf dem absoluten Höhepunkt. Und jetzt? CL-Titelverteidigung, Weltmeister 1998, noch mal ein großer internationaler Wechsel?
Weder Sammer noch sonst wer hatte wohl ahnen können, dass seine Karriere nur wenige Monate später so gut wie beendet war. Bei der Operation einer Knieverletzung kam es im Oktober 1997 zu einer schweren bakteriellen Infektion, von der sich Sammer nicht mehr erholte – mit 30 Jahren wurde er Sportinvalide. Und mit 34 dann eben der bis heute jüngste Meistertrainer der Bundesliga.
10. Dortmund für Deutschland
Deutschlands erster CL-Sieg wurde nach der fünften Ausgabe des erneuerten Wettbewerbs 1997 im Münchner Olympiastadion gefeiert – aber nicht vom FC Bayern. Auch wenn die Roten 2001, 2013 und 2020 gleich dreimal triumphierten und im Hier und Jetzt der einzige Bundesligist sind, dem das in absehbarer Zeit irgendwie zuzutrauen ist, war es vor inzwischen 25 Jahren Borussia Dortmund vorbehalten, die deutsche Premiere zu feiern.
Für Schwarz-Gelb keine ungewohnte Situation. Denn auch wenn der FC Bayern bereits 1967 seinen ersten Europapokal – den der Pokalsieger – in die seither üppig aufgefüllte Vereinsvitrine stellte: Ein Jahr vorher war den Münchnern als erster deutscher Europapokalsieger schon wieder der BVB zuvorgekommen.