Der 29. April 1972 markierte die Geburtsstunde der legendären “Wembley-Elf”, die als beste Nationalmannschaft gilt, die Deutschland je hatte. Wie spielte sie Fußball?
Zu vier anderen Zeitpunkten wurde Deutschland Weltmeister, das zweite Mal sogar nur zwei Jahre später, 1974 im eigenen Land. Und doch gilt die Europameistermannschaft von 1972 noch immer als beste, die Deutschland je gehabt haben soll. Ihre Legende beruht hauptsächlich auf der Spielstärke der von Helmut Schön betreuten Auswahl – und auf einem Gastspiel in England, das einen Ausblick ins neue Jahrtausend gab.
England: Banks – Madeley, Moore, Hunter, Hughes – Ball – Bell, Lee, Peters – Hurst (62. Marsh), Chivers.
Deutschland: Maier – Beckenbauer – Höttges, Schwarzenbeck, Breitner – Hoeneß, Netzer, Wimmer – Grabowski, Müller, Held.
Tore: 0:1 Hoeneß (26.), 1:1 Lee (77.), 1:2 Netzer (85., Elfmeter), 1:3 Müller (88.).
1. Das Viertelfinale
Ein EM-Spiel 1972 in England – die Europameisterschaft war damals doch in Belgien? Seit der Erstaustragung 1960 und noch bis 1976 nahmen am Endturnier der EM tatsächlich nur vier Mannschaften teil. Das Viertelfinale war dementsprechend noch (letzter) Teil der Qualifikation. So gab es nach dem berühmten 3:1, dem ersten deutschen Sieg auf der Insel, auch noch ein Rückspiel in Deutschland. Ein tristes 0:0 in Berlin, das in diesem Kontext gerne mal vergessen wird.
Dass die Fußball-Europameisterschaft damals sowohl noch in ihren Kinderschuhen steckte als auch übrigens noch nicht die Tragweite und Bedeutung von heute hatte, verdeutlichte die skurrile Tatsache, dass selbst das Vierer-Endturnier Mitte Juni stattfand, als die Bundesliga noch gar nicht beendet und noch mitten im Meisterkampf (Bayern gegen Schalke) war.

2. Die Angst der Deutschen
Zwei große Fußballnationen, historisch starke Deutsche, der Comeback-Sieg über England bei der WM zwei Jahre zuvor – eine Sensation war Deutschlands Wembley-Triumph 1972 wahrscheinlich nicht. Oder doch? Auch nach Ungarns legendärer Lehrstunde 1953 waren die “Three Lions” auf eigenem Boden noch eine absolute Macht, wo das DFB-Team bis dato noch nie gewonnen hatte – am prominentesten im WM-Finale 1966.
Weil die Deutschen außerdem in der Abwehr – Berti Vogts, Karl-Heinz Schnellinger und Wolfgang Weber fielen aus – auch noch personell geschwächt nach England reisten, galten sie zu diesem Zeitpunkt sogar als klarer Außenseiter, der Schlimmes befürchtete. Franz Beckenbauer und Günter Netzer sagten sich noch in der Kabine, dass sie fünf Gegentore noch für relativ glimpflich halten würden – ehe besonders diese beiden für einen großen Abend in der Geschichte des deutschen Fußballs sorgten. Den in dieser Form wohl keiner erwartet hatte.
3. Die Angst des Bombers
Deutschlands vielleicht spielstärkste Nationalmannschaft verfügte zusätzlich über den wahrscheinlich kältesten Mann vor dem Tor. Doch Gerd Müller, der “Bomber der Nation”, hatte nach einer Partie ohne viele Ballaktionen kein gutes Gefühl, als Deutschland in der 85. Minute – beim Stand von 1:1 – einen Elfmeter bekam.
Der vorgesehene Schütze gab später offen zu, sich in diesem Moment nicht getraut zu haben, weil er sich sicher gewesen sei, dass er nicht treffen würde. So übernahm der an diesem Abend überragende Netzer, der den Ball mit Müh und Not ins Tor zitterte.
Nur drei Minuten später revanchierte sich Müller dann auf seine Weise: mit einem unnachahmlichen Drehschuss an den Innenpfosten zum 3:1-Endstand.
4. Netzer – der klassische Zehner?
Aus der von Karl Heinz Bohrer (FAZ) berühmt gemachten “Tiefe des Raumes” spielte Gladbachs Spielmacher Netzer, damals 27, das Spiel seines Lebens. Als wahnsinnig dynamischer Ballverteiler und -treiber war Netzer der Herzschlag dieser so geölten, kombinationsfreudigen Mannschaft. Der Prototyp eines idealen Zehners?

Stilistisch klar. Aber nicht, wenn man damit einhergehend annimmt, dass sich Netzer im Zehnerraum – hinter den Spitzen – aufgehalten und bewegt hat. Tatsächlich begann er die meisten seiner Aktionen tief vor der eigenen Abwehr, von wo aus er sich dann passend oder dribbelnd nach vorne orientierte. Wie ein gestaltender Sechser, auf spielerische Weise sogar “box-to-box”. In einem ziemlich modernen 4-3-3.
Die Wembley-Elf spielte in Beckenbauer, der sich in puncto Vorstöße mit Netzer abwechselte und absicherte, zwar noch (oder eher schon) mit einem Libero, außerdem war als Gegenpart zum modernen Linksverteidiger Paul Breitner Horst-Dieter Höttges noch ein klassischer Manndecker (ebenso “Katsche” Schwarzenbeck). Schräg vor Netzer agierten der bemerkenswert komplette “Hacki” Wimmer und Uli Hoeneß dagegen wie zwei sehr fortschrittliche Achter. Und die Außenstürmer Jürgen Grabowski und Sigfried Held orientierten sich eher Richtung Mitte, wodurch diese Mannschaft noch besser dazu in der Lage war, eine Seite des Spielfelds gezielt und effektiv zu überladen.
“Diese Mannschaft spielt Traumfußball aus dem Jahr 2000”, schwärmte hinterher nicht nur die französische “L’Équipe”. Die natürlich nicht ahnen konnte, dass diese Mannschaft noch weitaus moderner spielte als das, was Deutschland zu Beginn des neuen Jahrtausends tatsächlich anbot.
5. Des Eisenfuß’ Seelenfrieden
Ein Spieler der Wembley-Elf, der mit dem berauschenden Offensivfußball nur bedingt etwas zu tun hatte, hatte am 29. April 1972 nicht nur eine Aufgabe, er hatte eine Mission. Seinen Gegenspieler Geoff Hurst nicht nur zu decken oder bis aufs Klo zu verfolgen, sondern ihn komplett auszuschalten.
Höttges war es gewesen, der auch im WM-Finale sechs Jahre zuvor für Hurst eingeteilt war, der mit drei Toren, von denen vielleicht keines hätte zählen dürfen, zum großen Matchwinner avancierte. Bundestrainer Schön hatte damals auf den angeschlagenen Höttges vertraut, dem sein “Versagen” 1972 offenbar noch so sehr auf der Seele brannte, dass der “Eisenfuß” seinen Widersacher derart zur Bedeutungslosigkeit verteidigte, dass Hurst sogar vorzeitig ausgewechselt wurde.
6. Der heimliche Held
Die legendäre Wembley-Elf hatte sogar Platz für einen einzigen Zweitligaspieler (damals Regionalliga): Sigi Held von Kickers Offenbach. Ob dieser Umstand dafür sorgte, dass der WM-Finalist von 1966 auf Linksaußen ein wenig vom Spiel der restlichen Mannschaft isoliert war?
Das hinderte Held jedenfalls nicht daran, zum heimlichen Matchwinner zu avancieren: Das erste Tor der Deutschen legte er auf, den Elfmeter zum zweiten erzwang er durch einen Konterlauf in der Schlussphase, vor dem dritten und entscheidenden gewann er tief in der gegnerischen Hälfte den Ball. Den Ruhm bekamen hinterher zwar vor allem Netzer, Beckenbauer und Müller ab, doch ohne Held hätte es den Wembley-Sieg vielleicht gar nicht gegeben.
7. Der Zeit voraus? Was die Zahlen sagen
Den Fußball aus dem kommenden Jahrtausend auch statistisch einzufangen, das haben um 2010 das Magazin “11 Freunde” und die Sporthochschule Köln versucht. Denn es fiel nicht nur auf, dass die deutschen Spieler 1972 größtenteils sehr schnell waren – und dass sie den Ball schnell weiterspielten.
Auch wie schnell der Ball dabei bewegt wurde, ist eines der großen modernen Merkmale einer Mannschaft, die ihrer Zeit eindeutig weit voraus war. So spielten sich die Deutschen den Ball in Wembley im Schnitt mit 2,9 Metern pro Sekunde zu, die Engländer taten das nur mit 1,64 m/s. Deutschland selbst war im WM-Halbfinale 1970, dem “Jahrhundertspiel” gegen Italien, noch bei 1,77 m/s gewesen, 2010 gegen Australien war die damalige Mannschaft von Joachim Löw dann “erst” auf 3,63 m/s davongezogen. Der starke futuristische Einschlag ließ sich also auch messbar machen.
8. Uli Hoeneß, moderner Achter
Ein Jahr später sollte er als pfeilschneller Konterstürmer im deutsch-deutschen Duell Dynamo Dresden knacken und schon 1975 so schwer verletzt werden, dass er seine Spielerkarriere bald vorzeitig an den Nagel hängen musste. Doch was der erst 20-jährige Hoeneß für ein vielseitiger Fußballer war, hatte er nicht zuletzt schon in Wembley bewiesen.
Dynamik, Spielverständnis und Durchschlagskraft, auf dem rechten Flügel oder im rechten Halbraum. Den Deutschland gegen England auch deshalb so visionär überlud, weil dort der Weg am zentrumslastigen Mittelfeld der “Wingless Wonders” vorbeiführte.
Bayerns langjähriger Patriarch, später längst nicht mehr austrainiert, war einst ein begeisternder Athlet und Fußballer von internationalem Format. Und potenziell ein ziemlich moderner Achter – wenn ihm denn die Arbeit gegen den Ball noch ein bisschen mehr am Herzen gelegen hätte.

9. Der Kapitän geht von Bord
Zwei Wochen nach seinem 31. Geburtstag machte Englands großartiger Weltmeisterkapitän von 1966, Bobby Moore, einen überalterten Eindruck – nachlassende Mobilität trotzte seinem genialen (Stellungs-)Spiel immer mehr. Vor dem ersten deutschen Tor hatte Moore im eigenen Strafraum den Ball vertändelt, Deutschlands Elfmeter in der Schlussphase verursachte er.
Der Kapitän ging schließlich von Bord, als England ein Jahr später auch die WM 1974 verpasste – was erneut auch auf individuelle Fehler Moores zurückzuführen war. Nach 108 Länderspielen für die “Three Lions”, die erst von Peter Shilton übertroffen wurden, nahm er seinen Hut. Mit nur 51 Jahren verstarb Englands nach wie vor einziger Weltmeisterkapitän 1993 an Krebs.
10. Die Wechsel nach Wembley
War die deutsche Nationalmannschaft von 1972 also die beste überhaupt? Und wenn ja, dann die Wembley-Elf oder das Europameister-Team? Tatsächlich gibt es da Unterschiede, konkret zwei personelle Wechsel zwischen dem Viertelfinal-Hinspiel gegen England und dem Endturnier gegen Belgien und die Sowjetunion.
Während Torwart Sepp Maier, die Abwehrreihe, das Mittelfeld und “Bomber” Müller in beiden Variationen vorkamen, wurden die Außenpositionen für Halbfinale und Finale neu besetzt – weil Grabowski verletzt war und Held in der angesprochenen Schlussphase der Liga-Saison von Kickers Offenbach nicht freigegeben wurde.
Neuer Linksaußen wurde Schalkes Virtuose Erwin Kremers, der angesichts der Blockbildung Bayern und Gladbach ein wenig aus der Reihe tanzte, als hängende Spitze agierte “Fohlen” Jupp Heynckes (Wimmer übernahm rechts).
In Anbetracht der Höhepunkte in beiden Spielen gegen die Sowjetunion – ein Freundschaftsspiel vor dem Endturnier und das Wiedersehen im Finale – war die Wembley-Elf daher womöglich noch nicht mal im Jahr 1972 die beste Mannschaft, die Deutschland hatte. Wenn man es denn ganz genau nimmt.