Auch weil 1996 noch eine andere Härte gestattet wurde, entwickelte sich Deutschlands bis heute letzter EM-Titel zu einer besonderen Geschichte. Eine Analyse.
Als der Fußball “nach Hause kam”, auf Wunsch der Engländer aber auch dort hätte bleiben sollen, gewannen am Ende – frei nach Gary Lineker – mal wieder die Deutschen.
Wie vor ihm Helmut Schön und Franz Beckenbauer holte auch der oft kritisierte Berti Vogts im dritten Turnieranlauf einen Titel, für den in letzter Instanz ein “Golden Goal” sorgte. Der Weg zu Deutschlands dritter und bis heute letzter Europameisterschaft hatte es allerdings in sich.
1. Ja, der Star war die Mannschaft
Mitnichten hatte Bundestrainer Vogts für eine taktische Revolution des europäischen Fußballs gesorgt. Doch es ist ihm als Leistung anzurechnen, dass er aus einigen Weltmeistern, Platzhirschen und Mitgliedern des damaligen “FC Hollywood” eine Einheit formte, die auf und neben dem Platz wirklich zu einer funktionierenden Mannschaft wurde.
“Geopfert” wurde “nur” der inzwischen 35-jährige Lothar Matthäus, auf den Vogts aufgrund anhaltender Dispute verzichtete. Die Sammers, Möllers, Häßlers und Klinsmanns bildeten schließlich ein Gefüge, in dem kein Spieler eine herausragende Rolle erhielt, die sich auch keiner von ihnen selbst herausnahm. Teilweise starke Einzelspieler agierten als (etwas minimalistische) Einheit.
2. Tugenden
Eigentlich war die Ära “Rumpelfußball” mit einigen (sehr) guten Spielern gespickt, die kollektiv jedoch nur bedingt als solche eingesetzt wurden. Das machte sich auch 1996 bemerkbar, als Deutschland – wie übrigens auch beim WM-Titel 1990 – vor allem durch eine starke Defensive überzeugte.
Denn die Zeit heiligte die Mittel: Vor inzwischen 25 Jahren durfte man noch regelmäßig bedenkenlos mit offener Sohle angeflogen kommen, ohne gleich mit einer Verwarnung rechnen zu müssen. Die damalige Leine kam der Manndecker-Nation Deutschland mit ihren Tugenden Lauf und Kampf entgegen.
Hinten wurde – vorwiegend nach Siegen in den Duellen Mann-gegen-Mann – der Gegner neutralisiert, nach vorne entstanden mit großer Regelmäßigkeit gewissermaßen Zufallsmomente, die nur selten sauber abgestimmt waren. So waren etwa in der Vorrunde alle fünf deutschen Tore weitgehend Erzeugnisse von Einzelaktionen.
3. ABER …
Deutschlands Europameistermannschaft von 1996, gegen Arrigo Sacchis Italiener im letzten Gruppenspiel kläglich unterlegen, bot spielerisch nicht allzu viel an. Manchmal war es die beste Option, wenn sich der relativ spielstarke Klinsmann fallen ließ und aus dem Mittelfeld oder vom Flügel ankurbelte.
Dabei hätten Personal und Ausrichtung mit dem nötigen Know-how wesentlich mehr versprochen: Vor dem offensiv potenten Libero Sammer und den Manndeckern Helmer und Babbel fegte Ostfriesen-Alemao (der Deutsche aus einer Region in Deutschland) Eilts, für die Kreativität waren zwischen dieser Sektion und den oft abgeschirmten Stürmern die “Achter” Möller und Häßler (oder Scholl) sowie die offensiv orientierten “Schienenspieler” Ziege und Reuter zuständig.

Nicht nur aus heutiger Sicht – mit einem aus der Tiefe noch mehr vorstoßenden Sammer – hätten dieses 3-1-4-2 (in Ballbesitz) und auch das im Ansatz gefährliche Konterspiel durchaus Potenzial gehabt. Doch bei der EM 1996 fehlte Deutschland dafür sowohl die entsprechend risikobewusste Anweisung als auch die nötige Abstimmung. Die nahezu komplett fehlende Pressingresistenz war (gerade gegen Italien) ein weiteres Problem.
Schaut man sich heutige Top-Trainer wie Thomas Tuchel an, glaubt man trotzdem, dass diese – in der Zeit zurückgeschickt – das Deutschland von 1996 auf Anhieb ungleich besser machen könnten. Das Potenzial war da, der Spielansatz nicht.
4. Ein Titan und sein Zettel
Ersatztorwart Oliver Kahn zählte zu den Spielern, die 1996 keine einzige Minute auf dem Feld standen – Jens Lehmann war noch gar nicht dabei. Und doch gab es in England einen “Titanen”, der gegnerische Elfmeterschützen sogar mit einem Spickzettel verunsicherte.
Andreas Köpke war beim dritten EM-Titel vielleicht sogar bester deutscher Spieler – gerade gegen Italien rettete er das DFB-Team (inklusive gehaltenem Elfmeter) – und schließlich auch der Mann, der Lehmann zehn Jahre später den wesentlich berühmteren Zettel schrieb.
Es ist und bleibt kaum vorstellbar, dass Deutschland jemals ein Torwartproblem haben wird.
5. Ein goldener Sammer?
Er bekam sogar den Ballon d’Or: War Matthias Sammer für die Europameister von 1996 das, was Lothar Matthäus für die Weltmeister von 1990 war? Nein.
Selbst der Mythos des “Liberos vor der Abwehr” traf nur gelegentlich zu (dort agierte Dieter Eilts), für seinen Charakter ungewöhnlich verhielt sich Sammer über weite Strecken des Turniers ziemlich abwartend und zurückhaltend.
Auch hier gilt anzumerken, dass es – vielleicht hatte Vogts eine gewisse Zurückhaltung verlangt – auch ganz anders hätte kommen können: Im Viertelfinale gegen Kroatien spielte Sammer so, wie man es sich heute erzählt. Er verteidigte aggressiv nach vorne, verlagerte und leitete ein, seine dynamischen Tiefenläufe zu den richtigen Zeitpunkten in die richtigen Räume resultierten sowohl im Elfmeter zum 1:0 als auch in seinem 2:1-Siegtreffer.
Ansonsten überragte er die anderen deutschen Feldspieler – auch aufgrund von anhaltenden defensiven Unsicherheiten – nicht wirklich. Zumindest nicht deutlich.
6. Gegen England: Wie 1990?
Ein im siegreichen Elfmeterschießen endender Halbfinal-Epos weckte natürlich Erinnerungen in die WM 1990. Auch, weil die unterlegenen Engländer erneut wie das etwas bessere Team wirkten.
Die “Three Lions” spiegelten (dafür mussten sie nicht umstellen) das deutsche Mittelfeld und verfolgten die Außenläufer, sodass das Vogts-Team ganz gut in Schach gehalten werden konnte. Doch vorne scheiterten sie wie 1990 am Aluminium (Anderton), Gascoigne verpasste in der Verlängerung das “Golden Goal” um eine halbe Schuhgröße – ehe Pechvogel Southgate aus elf Metern auf Pearce und Waddle folgte.
Ein umjubeltes “Golden Goal” hätte im Halbfinale aber auch Stefan Kuntz erzielen können, dessen ziemlich regulärer (zweiter) Treffer wegen eines vermeintlichen Foulspiels keine Anerkennung fand. Mindestens deswegen ging der deutsche Sieg dann auch in Ordnung, war es 1990 noch Englands Platt gewesen, dem in der Verlängerung ein korrekter Treffer aberkannt worden war.
7. Wie Buchwald?
Der heimliche Held, der den Laden im Schatten der größeren Namen zusammenhielt. Was 1990 Guido Buchwald war, war 1996 Dieter Eilts? Nicht ganz.
Während Buchwald der bessere Fußballer war, der zudem mehrere Positionen bespielte und verschiedene Aufgaben erfüllte, beschränkte sich Eilts’ Aktionsradius mit dem Ball auf die simpelsten Dinge, die er allerdings meistens sehr ordentlich löste. Gegen den Ball räumte der Ostfriesen-Alemao dann auch so viel ab, weil die in Punkt 2 angesprochenen zeitgemäßen Linien das erlaubten. Denn fair spielte der beim Timing variierende Eilts längst nicht immer.
Der unscheinbare Kämpfer, der im Finale verletzt runter musste, erfüllte eine wichtige Rolle und ist aus dieser Mannschaft kaum wegzudenken, reichte gerade in puncto Vielseitigkeit aber nicht an Buchwald und dessen Bedeutung für die 90er-Weltmeister heran.
8. Die Trikots gab es wirklich
“So etwas haben wir noch nicht gehabt”, sagte selbst Team-Doc Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt, und das hatte etwas zu heißen. Basler, Kohler, Helmer, Klinsmann, Bobic, Freund, Eilts und wie sie alle hießen, die im Turnierverlauf dauerhaft oder zumindest zeitweise ausfielen.
Deutschland ging während der EM 1996 personell derart auf dem Zahnfleisch, dass gerade einmal acht Feldspieler das Abschlusstraining vor dem Finale bestreiten konnten – und Jens Todt, der das Halbfinale im Stadion noch als Fan gesehen hatte, kurzerhand nachnominiert werden durfte.
Ehe es für den DFB-Tross trotzdem das bestmögliche Ende nehmen sollte, waren Teamchef Vogts und Co. auch auf den schlimmsten aller Fälle vorbereitet – die beiden Ersatztorhüter Oliver Kahn und Oliver Reck als Ersatz-Feldspieler bereitzuhalten.
“Kahn ist mehr der kreativere und bewegliche Spieler, der im Offensivbereich Vorzüge hat”, druckste Vogts auf der Pressekonferenz leicht schelmisch herum, “und Reck hat – in Verbindung mit Dieter Eilts – mehr Vorzüge in der Defensive”.
Das folgende Bild beweist ein schier unvorstellbares Kuriosum, der Ernstfall blieb allerdings aus.

9. Die Angst vor der Fahne
Für Matthias Sammer war es ein hektisches Turnier, in vielerlei Hinsicht. Was vielleicht für kein Spiel so galt wie für das Finale, in dem er zunächst in der zweiten Hälfte – beim Stand von 0:0 – einen Elfmeter verursachte. Wobei er Gegenspieler Poborsky weder gefoult hatte noch hätte dieser Kontakt im Strafraum stattfinden können. Fehlentscheidung.
Unmittelbar nach dem Pfiff stürmte Sammer also auf Trainer Vogts zu, um diesem seine Unschuld aufs Ärgste zu versichern – Berti pflichtete bei. Machtlos waren sie beide. Als zu Beginn der Verlängerung aber alle Welt auf Oliver Bierhoffs Jubellauf starrte und den Titel wegen der “Golden Goal”-Regel eingefahren wähnte, drehte Sammer schon wieder am Rad.
Beim Jubel mit Wolfgang Niersbach erspähte der Libero, dass der Linienrichter die Fahne gehoben hatte und vor dem 2:1 eine Abseitsposition erkannt haben wollte, was erst von Schiedsrichter Pierluigi Pairetto überstimmt wurde. Im abrupten Freudentaumel war diese Szene jedoch an Sammers meisten Kollegen vorbeigegangen. Und folgenlos geblieben.
10. Monika sei Dank
Das erste Mal, dass das “Phänomen” Ronaldo in einer europäischen Liga nicht auf Anhieb Torschützenkönig wurde? 1998 in Italien, als Oliver Bierhoff noch “besser” war – und daraufhin Stammspieler bei Milan wurde.
Nur zwei Jahre zuvor war der Kopfballspezialist im Kreise der deutschen Nationalmannschaft noch ein ziemlicher Nobody gewesen, der vielleicht nur nominiert worden war, weil die Frau des Bundestrainers ein gutes Wort für ihn eingelegt hatte.

“Nimm den Oliver mit, er wird es dir danken.” So hatte neben dem unentschlossenen Berti auch Monika einen womöglich entscheidenden Anteil an Deutschlands drittem Europameistertitel – der noch mehr als 25 Jahre später der vorerst letzte bleibt.