Glenn Hoddle: DENN SIE WUSSTEN NICHT, WAS ER TUT

Glenn Hoddle war der begnadetste englische Fußballer seiner Generation. Mit einem solchen konnten sie auf der Insel aber nicht umgehen – noch nicht einmal er selbst.

Es gibt ein Foto, das zeigt, wie der heranwachsende Glenn Hoddle am Spielfeldrand sitzt und George Best beobachtet. “Was für ein Blickwinkel, um über das Spiel zu lernen”, schrieb der längst erwachsene Hoddle 2021 auf Twitter unter das Bild. War doch klar, wie dieser Junge später einmal kicken wollte.

Dabei war Glenns Lieblingsspieler eigentlich ein ganz anderer gewesen. Martin Chivers, baumlanger Mittelstürmer von Tottenham und weitaus weniger spektakulär als ein George Best. Wuchtig, geradlinig, Kampfsau. Typisch englisch halt. Aber wer für deinen Lieblingsklub die meisten Tore schießt, mit dem kann kein Nordire mithalten.

Okay, ab einem gewissen Punkt hatte Chivers auch noch ein anderes Ass im Ärmel. Als er als Teil einer Tottenham-Delegation dem Finale eines Schülerturniers beiwohnte, konnte der kleine Hoddle den großen Chivers dort so sehr von sich überzeugen, dass das Idol seinen Verein höchstpersönlich darum bat, den begabten Fan doch bitte in die Nachwuchsabteilung aufzunehmen. Besser hätte sich Glenn seinen Lieblingsspieler nicht aussuchen können. Wie auch die Spurs nicht ihr neues Talent.

Vielleicht hatten die Äcker im Londoner Großraum der 1970er Jahre, auf denen Hoddle schon mit 15 nebenbei in der Gurkentruppe seines Vaters mitspielte, für die nervigen Knieprobleme gesorgt, die wiederum dafür sorgten, dass Glenn nicht der Schnellste war. Und es auch nie werden sollte. Als er bei seinem Liga-Debüt mit 18 allerdings aus 25 Metern den Siegtreffer gegen Nationaltorwart Peter Shilton erzielte, deutete der Kunstschütze an, dass er diese Schwäche durch eine Präzision kompensieren konnte, die ihm womöglich seine Darts spielende Mutter vererbt hatte.

“Ich war zwar kein toller Torschütze, aber ein Schütze toller Tore”, witzelte er.

In Hoddles zweiter Saison bei den Großen stieg Tottenham als Tabellenletzter ab. Etwas Besseres hätte ihm kaum passieren können. Außer vielleicht mit Trainer Keith Burkinshaw, der das richtige Gefühl hatte und die Aufstiegsmannschaft, die auch das Gerüst der nächsten Jahre bilden sollte, um sein begnadetes Talent herum aufbaute. Der sofortige Wiederaufstieg wurde nur zu einer Zwischenstation.

Mit der Genauigkeit eines Dartpfeils zog ein immer stärker werdender Hoddle das Spiel immer stärker werdender Spurs auf, sodass ihm das Tempo irgendwann nur noch im Vergleich mit einem ganz Großen fehlte. “Er ist wie ein langsamer Maradona”, adelte Argentiniens Weltmeister Osvaldo Ardiles, der nach der WM 1978 an die White Hart Lane gewechselt war, seinen neuen Nebenmann im Mittelfeld. Also doch mehr Best als Chivers.

Glenn Hoddle beobachtet George Best. – Bild: Twitter/Glenn Hoddle

Dass Tottenham bald nicht nur sehr gut, sondern im Ligavergleich auch sehr schön spielte, hatten die Spurs neben Trainer Burkinshaw vor allem ihrem Gestalter zu verdanken, dem in der Saison 1979/80 der große Durchbruch gelang. Zwar war der damals 22-Jährige ganz bestimmt kein typischer Engländer, nach 19 Saisontoren aus dem Mittelfeld aber nun englischer Nationalspieler. Zumindest immer mal wieder.

Im weißen Teil Nordlondons gab es keine Zweifel. Der Feingeist, der in beiden Füßen gleichermaßen mehr Gefühl hatte als die meisten gegnerischen Mannschaften zusammen, verschaffte den Spurs etwas, auf das sie gefühlt seit dieser Zeit verzichten müssen: Titel. 1981 gewann Tottenham den prestigeträchtigen FA Cup, 1982 beinahe die Meisterschaft. Weil Hoddle und Co. im Saisonendspurt jedoch gleich um vier Titel spielten, ging ihnen schließlich die Puste aus. Wenigstens reichte es wieder für den Pokal, in dessen Final-Wiederholungsspielen Hoddle sowohl 1981 als auch 1982 getroffen hatte.

Ein paar Wochen später war WM. Und England nach der Zwischenrunde draußen. Zwar hatten die “Three Lions” sowohl gegen Deutschland als auch gegen Gastgeber Spanien kein Gegentor kassiert, sie hatten durch ihre konservative Herangehensweise in beiden Partien aber auch keinen eigenen Treffer geschossen. Gefangen im sinnbildlichen 4-4-2. “Es floss genug Schweiß, um all die zufriedenzustellen, die harte Arbeit wertschätzen”, prangerte “The Times” an, “es fehlte einzig ein Tropfen Inspiration eines herausragenden Individualisten”. Hoddle hatte in beiden Spielen nur auf der Bank gesessen. Selber schuld.

Johan Cruyff hätte vielleicht anders entschieden. Auf dem Weg zum UEFA-Cup-Triumph der Spurs hatte sich der niederländische Genius 1983/84 noch kritisch über Hoddle geäußert – nach Tottenhams Siegen über Feyenoord musste er aber gestehen, dass er sich geirrt hatte. “Ich wusste nicht, wie gut du bist, bis ich gegen dich gespielt habe”, räumte Cruyff ein, dessen Geste des Trikottauschs die Hochachtung noch besser zum Ausdruck brachte. “Wäre Hoddle Franzose gewesen, hätte er über 100 Länderspiele gemacht”, war auch Michel Platini überzeugt – bloß in England, für das Glenn “nur” 53 Einsätze sammelte, waren sie das irgendwie nicht.

Glenn Hoddle legt los. Da staunt auch Johan Cruyff nicht schlecht. – Bild: tottenhamhotspur.com

Dass ein Lernprozess ausgeblieben war, bewies man bei der WM 1986, als sich England durch das Turnier würgte – bis Bryan Robson verletzt, Ray Wilkins gesperrt und Glenn Hoddle nicht mehr auf der Bank zu halten war. Mit ihm auf dem Rasen zeigten die Three Lions bei den deutlichen Siegen über Polen und Paraguay ein ganz anderes Gesicht, bis sie im Viertelfinale gegen Argentinien zwar immer noch Hoddle hatten, aber die Argentinier eben Maradona. Vielleicht hätte es ja trotzdem klappen können, wenn England in John Barnes einen missverstandenen Freigeist der kommenden Generation nicht erst so spät eingewechselt hätte. Klar.

Hoddle hatte jedenfalls genug gesehen. Ein Jahr später kehrte er einer verstaubten Fußballnation und seinem Herzensklub den Rücken und wechselte mit 29 erstmals ins Ausland. Einerseits hatte die Katastrophe von Heysel 1985 natürlich nach sich gezogen, dass englische Vereine allesamt von europäischen Wettbewerben ausgeschlossen wurden – ein Grund für den Wechsel nach fast zwei Dekaden Spurs. Andererseits rührte Hoddles ehrliche Motivation daher, dass er sich und sein Spiel in der Heimat nie wirklich wertgeschätzt gefühlt hatte.

Maradonas Napoli hätte es einmal werden sollen, was wegen einer Verletzung Hoddles aber nie zustande kam. Mit Paris Saint-Germain war er sich dann 1987 schon einig gewesen, bis in letzter Sekunde ein noch ziemlich unbekannter Trainer namens Arsene Wenger dazwischen grätschte. Der Franzose präsentierte dem Engländer ein paar reizvolle Ideen – und hatte damit genug Überzeugungsarbeit geleistet. Hoddle und die AS Monaco waren ein perfektes Match.

Dass die Monegassen, für die auch Mark Hateley und der junge George Weah stürmten, auf Anhieb französischer Meister wurden, lag sicherlich auch daran, dass Hoddle erstmals in seiner Karriere “direkt hinter dem Stürmer spielte. Das war meine beste Position, auf der ich für Tottenham und England aber nie hatte spielen dürfen. Ich genoss jede einzelne Sekunde.”

Obwohl sich seine besten Jahre wegen einer schweren Verletzung 1989 dem Ende neigten, hatte Hoddle durch seinen Wechsel ins Ausland vor allem den Fußball in seiner Heimat nachhaltig verändert. Auch wenn das zu diesem Zeitpunkt noch keiner ahnen konnte. Durch und mit Hoddle, dessen Rolle später Dennis Bergkamp interpretieren würde, hatte Wenger bei Monaco erstmals erfolgreich mit der Formation gespielt (4-2-3-1), mit der er als Arsenal-Trainer die Premier League auf den Kopf stellen sollte.

Dass Wenger das ausgerechnet bei Tottenhams Erzrivale vollbrachte, hatten die Spurs übrigens ihrem einstigen Star zu verdanken. Dieser hatte den Gunners Wengers Verpflichtung auf Nachfrage nämlich ausdrücklich empfohlen.

Hoddle selbst kehrte Mitte der 90er als Spielertrainer nach London zurück, wo er beim FC Chelsea den ersten Teil seiner Aufgabe noch ein bisschen zu wörtlich nahm. Hinter den Kulissen sollen frustrierte Spieler bitterlich darüber geklagt haben, dass ihr Trainer sie fußballerisch noch immer in den Schatten stellte.

Zumindest hatte Hoddle dafür gesorgt, dass Chelsea auch für ein paar der größeren Namen wieder interessant geworden war. So folgten auf ihn mit Ruud Gullit und Gianluca Vialli zwei weitere Spielertrainer, die ihren Schützlingen auf dem Trainingsplatz wahrscheinlich nicht immer das beste Gefühl gaben.

Hoddle überzeugte aber auch an der Seitenlinie. So sehr, dass er im Anschluss an Englands euphorische Heim-EM 1996 zum neuen Nationaltrainer ernannt wurde. Jetzt hatte er die Chance, es mit den Three Lions endlich einmal besser zu machen – bis er sich Anfang 1999 reichlich unsensibel über behinderte Menschen äußerte und zu seinem Rücktritt daraufhin regelrecht genötigt wurde.

Zuvor hatte Hoddle die Engländer aber wenigstens noch zur WM 1998 geführt, bei der ausgerechnet er, Glenn Hoddle, in Paul Gascoigne und Matt Le Tissier auf seine begnadetsten Spielgestalter verzichtet hatte. Er trainierte ja schließlich nicht Nordirland.

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