Wie war es eigentlich, das wichtigste Tor in der Geschichte des deutschen Fußballs zu schießen? Das Schicksal des Helmut Rahn:
Es gibt Tore, die sind wichtig für ein Spiel. Es gibt Tore, die sind wichtig für eine Saison – oder gar für die folgende Entwicklung eines Vereins. Und dann gibt es Tore, die sind wichtig für ein ganzes Land. Ein solches erzielte Helmut Rahn am 4. Juli 1954 in Bern.
Stellt euch vor, ihr lebt als Deutsche in einem Deutschland, das unter Adolf Hitler den Krieg verloren und einige der größten Schandtaten in der Geschichte der Menschheit verbrochen hat. Ihr seid Teil einer verhassten Nation, die kaputt und in fremder Hand am Boden liegt.
Stimmungs- und Selbstbild der meisten Deutschen sahen noch in etwa so aus wie die zerstörte Dresdner Frauenkirche, da schmiedete Ex-Reichstrainer Sepp Herberger – nun also Bundestrainer – bereits einen Plan.
Deutschland darf wieder mitspielen
Herberger, der sich während des Krieges durch allerlei Beziehungen für die möglichst sichere “Verwahrung” seiner Nationalspieler mit möglichst wenigen Einberufungen und Front-Einsätzen engagiert hatte, wollte mit seiner Mannschaft, die 1950 noch von der Weltmeisterschaft ausgeschlossen worden war, unbedingt an der kommenden WM in der Schweiz teilnehmen.
Intern formulierte man das Vorhaben als große Chance, nach außen befasste man sich mehr mit den Befürchtungen der pessimistischen Bevölkerung, es würde bloß ein weiteres Debakel geben. Herbergers verlängerter Arm war Kapitän Fritz Walter: sensibel im Umgang, aber ein begnadeter Fußballer. Ihr verlautbartes Ziel war es also, in der Schweiz “einen guten Eindruck zu hinterlassen”. Und, naja, zumindest die Gruppenphase zu überstehen.
Herberger, Walter und Co. kehrten bekanntlich mit weitaus mehr zurück, als sie sich wohl selbst in ihren kühnsten Träumen ausgemalt hatten. Und kaum minder wahrscheinlich war es gewesen, dass ausgerechnet Helmut Rahn zum größten aller Helden avancierte.

Der damals 24-jährige Rahn, ein hochgradig talentierter Außenstürmer, aber auch ein Ruhrpott-Rebell mit innigem Hang zum Zapfhahn, war ursprünglich als Ergänzungs- und noch mehr als Problemspieler mit in die Schweiz gefahren. Der Torgarant aus Essen profitierte allerdings ungemein davon, dass der Bundestrainer gewissermaßen eine Schwäche für ihn hatte.
Unter jedem anderen Teamchef wäre der “Boss” wohl nach Hause geschickt worden, als er während des Turniers bei einer nächtlichen Sauftour mit anderem Ersatzpersonal – Auswechslungen gab es noch nicht – auf frischer Tat ertappt wurde. Herberger, der Rahns Potenzial wohl bis aufs Blut verteidigt hätte, entlohnte den Gerüffelten später sogar, indem er im Viertelfinale gegen Jugoslawien Schalkes Berni Klodt aus der Startaufstellung strich – und Rahn die Chance gab, sich zu beweisen.
Ein eingelöstes Versprechen ermöglicht Rahn das Finale
Großspurig kündigte ein nicht mal im Ansatz nervöser Boss seinem Förderer sogar noch an, er würde das entscheidende Tor schießen. Genau das tat Rahn auch, aus 18 Metern in den Knick. Fortan war er Stammspieler.
Im Halbfinale folgte das epische 6:1 über ein glänzend besetztes Österreich – das Märchen des großen deutschen Underdogs von 1954 wäre langsam mal auserzählt -, ehe im Endspiel die unvermeidlichen Ungarn warteten. Und so viel besser dieses DFB-Team auch war, als man sich heute im Volksmund erzählt: Einen größeren Favoriten gab es in einem WM-Finale wahrscheinlich nie.
Ungarns “goldene Elf”, vier Jahre unbesiegt, führte im Wankdorfstadion durch Puskas und Czibor bereits nach acht Minuten mit 2:0. Viele erwarteten die Neuauflage des 3:8, als Herberger, der Fuchs, im Vorrunden-Duell eine B-Elf aufgestellt hatte. Um seine Leistungsträger für das Entscheidungsspiel gegen die Türkei zu schonen.
Doch seiner Bestbesetzung gelang es beim Wiedersehen im Finale auch dank den “deutschen Tugenden” Lauf und Kampf, den Dassler-Stollen im Fritz-Walter-Regen und mindestens ein paar Vitamin-C-Präparaten, dem Dominator über weite Strecken tatsächlich die Stirn zu bieten.
Rahn trifft nicht nur einmal
Für den Triumph unabdingbar: die schnelle deutsche Antwort. Rahn wich von rechts auf den linken Flügel aus und jagte das nasse Leder Richtung Fünfmeterraum, wo Max Morlock, der eigentlich schon Urlaub gebucht hatte, da er Deutschland zu diesem Zeitpunkt bereits ausgeschieden wähnte, mit seinem langen Bein auf 1:2 stellte. Wenig später glückte Rahn nach einer Ecke das 2:2.

Selbstsichere Ungarn rieben sich die Augen, allen voran ihr von Herberger enttarnter Schlüsselspieler Hidegkuti, von “Windhund” Horst Eckel auf Anweisung aus dem Konzept gebracht. Auf der Gegenseite entwickelte sich derweil die Überzeugung, den scheinbar (doch nicht so) übermächtigen Gegner wirklich schlagen zu können.
Sechs Minuten vor Schluss zahlten sich Herbergers Analysen ein weiteres Mal aus. Hinter Ungarns offensivem rechtem Läufer Bozsik ergaben sich immer wieder Räume, die er nach Ballverlusten nicht mehr schließen konnte. Dorthin beorderte Herberger Linksaußen Hans Schäfer, der in der 84. Minute, nach einem Ballverlust Bozsiks, plötzlich den ganzen Flügel vor sich hatte.
“Schäfer – nach innen geflankt, Kopfball – abgewehrt …”
Man kann es drehen und wenden wie man will. Manchmal musst du einfach das Glück – oder das Schicksal – haben, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu stehen. Das Leder fiel Rahn vor die Füße, halbrechts an der Strafraumkante lauernd, etwa 20 Meter Torentfernung. Der mit rechts etwas stärkere Beidfuß trat mit zwei, drei Schritten schnell an, legte sich den Ball mit einer Finte auf links, und hatte die zwei verbliebenen Verteidiger dadurch entscheidend irritiert.
“Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen. Rahn schießt! TOR! TOR! TOR! TOR!”
Der Großteil der deutschen Bevölkerung verfolgte Hörfunk-Reporter Herbert Zimmermann, der verfolgte, wie die Kugel auf dem nassen Geläuf unhaltbar für Grosics im linken unteren Eck einschlug. Weil triumphierende Mannschaften eigentlich immer auch das meiste Glück hatten, zählte Puskas’ 3:3 wegen einer bedenklichen Abseits-Entscheidung nicht – und plötzlich war Deutschland Weltmeister. Und plötzlich war man wieder “jemand”.
Nicht nur die durchnässten Fußballer auf dem tiefen Rasen des Wankdorfstadions, sondern alle Bürger (West-)Deutschlands. Zumindest fühlte es sich für einige so an. Der WM-Triumph für die ganze Nation, die nach Anerkennung und Erfolg nur so gelechzt hatte.
Die Helden von Bern wurden in ihrer Heimat frenetisch empfangen, sie hatten ihrem Land spürbar mehr gebracht als “nur” einen Fußball-Pokal.
Ungewollte Aufmerksamkeit
Und Rahn, der zwei der drei deutschen Final-Treffer erzielt hatte, war der größte Held von allen. Ein zufriedener Mann, mit großem Talent gesegnet, aber auch – und das hatte eigentlich niemanden etwas anzugehen – mit großen Lastern behaftet. Zu den Problemchen mit dem Alkohol oder manch körperlicher Auseinandersetzung gesellte sich von nun an auch das Rampenlicht. Sein größter Feind.
Ständig sollte Rahn die Geschichte vom dritten Tor erzählen. Und natürlich litt auch seine Karriere unter der öffentlichen Dauer-Inspektion nach 1954. Skandale, Platzverweise, Formverlust. Außer bei Herberger, der seinen sportlichen Ziehsohn nie fallen ließ. Die Nationalmannschaft blieb für Rahn, der mit Rot-Weiss Essen 1955 Deutscher Meister wurde, eine seltene Wohlfühloase. Bei der WM 1958, die Titelverteidigung misslang im Halbfinale gegen Gastgeber Schweden, schoss er sogar sechs Tore – eine Eintagsfliege war der Boss bei weitem nicht.
Doch spätestens nach seiner aktiven Zeit, als es für ihn auch keine Nationalmannschaft mehr gab, offenbarte sich schmerzlich, dass Helmut Rahn, der lieber “im Hintergrund” geblieben wäre, eigentlich kein Gewinner war. Gefrustet vom ungewollten Ruhm und mehr und mehr gezeichnet vom steten Begleiter Alkohol gelang Rahn in der Berufswelt nichts, das man als Erfolg verbuchen konnte. Was dem einsamen Helden noch blieb, war vor allem das Interesse Fremder. Vieler Fremder.
“Mensch, Helmut. Erzähl mich dat dritte Tor!” Und Rahn erzählte und trank und erzählte und trank. Er wollte nicht, aber er tat es immer wieder. Was sollte er denn auch sonst tun? Irgendwann “vertrieben” sie ihn sogar aus seiner Stammkneipe “Frisenstube”, wo die bekannten Gesichter immer weniger wurden. Im Rahmen von Legenden-Treffen stellte Rahn mit der Zeit nur noch ein Häufchen Elend dar. So wirklich zur Kenntnis nehmen, zumindest so, dass auch er etwas davon gehabt hätte, wollte das aber keiner. Er war doch schließlich der Held.
Zum Ende hin war es wirklich nicht mehr schön. Rahn zog sich gänzlich zurück, litt an Demenz und verstarb 2003 verarmt und vereinsamt, wie er es in der zweiten Hälfte seines Lebens so häufig gewesen war. Man darf zwar ohne Übertreibung behaupten, dass die deutsche Geschichte ohne Helmut Rahns Siegtor 1954 womöglich ein bisschen anders verlaufen wäre. Sein eigenes Leben aber auch.