Im April 2011 zerlegte Schalke 04 Triplesieger Inter Mailand in dessen Stadion und zog schließlich ins Halbfinale der Champions League ein. Wie stellte Ralf Rangnick das an?
Im Frühjahr 2021 ist der “souveräne” und hochverdiente Abstieg des FC Schalke 04 aus der Bundesliga längst besiegelt. Noch zehn Jahre zuvor hatte einer der größten Vereine Deutschlands nicht sich selbst, sondern den amtierenden Triplesieger Inter Mailand blamiert, der im Achtelfinale den FC Bayern aus der Champions League geschossen hatte.
Im Viertelfinal-Hinspiel (auch das Rückspiel gewann S04) zelebrierten die Königsblauen, die wenig später DFB-Pokalsieger wurden, eine der herausragenden Leistungen ihrer Vereinsgeschichte. Weder knapp noch unverdient gewann Außenseiter Schalke in San Siro gleich mit 5:2 – was nicht nur Inter überraschte, aber durchaus zu erklären ist:
Inter Mailand: Cesar – Maicon, Ranocchia, Chivu, Zanetti – Motta (76., Nagatomo) – Stankovic (24., Kharja; 63., Cordoba), Cambiasso – Sneijder – Eto’o, Milito.
FC Schalke 04: Neuer – Uchida, Höwedes, Matip, Sarpei – Farfan, Papadopoulos, Jurado (83., Draxler), Baumjohann (76., Schmitz) – Edu, Raul (87., Karimi).
Tore: 1:0 Stankovic (1.), 1:1 Matip (17.), 2:1 Milito (33.), 2:2 Edu (40.), 2:3 Raul (53.), 2:4 Rannochia (ET, 57.), 2:5 Edu (75.).
Platzverweise: Chivu (62., Gelb-Rot).
1. Eine Saison, sechs Trainer
Während Schalke heuer ungebremst auf die Zweitklassigkeit zusteuert, ist Inter der Scudetto kaum noch zu nehmen. Für die Nerazzurri wäre es die erste Meisterschaft nach elf Jahren Dürre – was einer zwischenzeitlichen Entwicklung zuzuschreiben ist, die bereits kurz nach dem Triple begann.
Erfolgstrainer José Mourinho war umgehend zu Real Madrid gewechselt, unter seinem bald ungeliebten Nachfolger Rafa Benitez verlor der Serienmeister und Triplesieger spürbar an Qualität. Benitez hielt nur knapp sechs Monate durch, ab Weihnachten 2010 übernahm Leonardo.
War das Stammpersonal im Vergleich zur Vorsaison zwar noch größtenteils unverändert, hatte ein von nun drei verschiedenen Trainer-Ausrichtungen “verwirrtes” Inter zehn Monate nach dem CL-Triumph spielerisch nur noch bedingt viel mit dem Triplesieger zu tun. 2011/12 folgte übrigens eine weitere Drei-Trainer-Saison.
Streng genommen war es so 2010/11 auch Schalke ergangen, nur dass Seppo Eichkorn lediglich für drei Tage übernommen hatte und Ralf Rangnick statt Felix Magath (zumindest für dieses Duell) ein Upgrade war. Das 5:2 war erst das zweite Spiel unter Rangnick, dessen Einflüsse sich trotzdem schon bemerkbar machten (dazu später mehr) – auch wenn S04 natürlich auch noch von der Magath’schen Stabilität zehrte.
2. Stankovics Tor: Gar nicht so spontan
Manch seiner Hoffnung beraubter Schalker war sich wahrscheinlich ziemlich veralbert vorgekommen, als Stankovics sensationeller 50-Meter-Volley bereits nach einer halben Minute hinter Manu, dem Libero, einschlug. “Ausgerechnet jetzt und gegen uns, das gelingt dem in 100 Versuchen doch nie wieder.”
Was im Fall von Dejan Stankovic nicht ganz richtig ist. Denn der Fernschuss- und Volleyspezialist hatte schon 2009 gegen Genua den missglückten Abschlag eines zu weit vor seinem Tor stehenden Keepers aus 50 Metern direkt in die Maschen gedroschen.
Wohl nur Manuel Neuer hätte diese Situation vor zehn Jahren außerhalb des Sechzehners per Flugkopfball geklärt – und wohl nur Stankovic hätte mit voller Überzeugung genau das versucht, was ihm tatsächlich gelang.
3. Zwei gegensätzliche Vertretungen
Inters Personalsituation war nicht ideal: Star-Stürmer Diego Milito, der dennoch seine Momente hatte und sogar zum 2:1 traf, kehrte erst in diesem Spiel von einer Verletzungspause zurück; in der Abwehr stand Eckpfeiler Lucio nicht zur Verfügung, dessen Vertreter Andrea Ranocchia – dazu später mehr – nicht gerade das Spiel seines Lebens spielte.
Außerdem verletzte sich mit Blitz-Torschütze Stankovic – bei eigenem Foulspiel – ein weiterer Leistungsträger schon nach wenigen Minuten. Der für den Serben eingewechselte Houssine Kharja blieb so unauffällig, dass er später wieder ausgewechselt wurde.
Schalke musste zwar auf Neuzugang Klaas-Jan Huntelaar verzichten, was an diesem Abend aber womöglich ein Segen war, da Doppeltorschütze Edu tatsächlich das Spiel seines Lebens spielte.
4. Ein Mailänder Derby
Wenige Tage zuvor hatte Inter das Stadtderby gegen Milan mit 0:3 verloren, mit Ralf Rangnick unterlagen die Nerazzurri dann einem Jünger der rot-schwarzen Trainerlegende Arrigo Sacchi.
Sacchis typisches 4-4-2 mit anlaufenden und Passwege zustellenden Stürmern, zurückarbeitenden und diagonal startenden Außenbahnspielern (Farfan!), der hohen Viererkette inklusive Abseitsfalle sowie einer generell sehr kompakten Ordnung machte es Inter schwer, offensiv zur Entfaltung zu kommen und vor allem seine Doppelspitze in Szene zu setzen.
Raumaufteilung, Überzahl in Ballnähe durch Verschieben und die Konterstruktur durchs Zentrum komplettierten in Ballbesitz eine ziemlich erfolgreiche Sacchi-Imitation, die sogar so weit ging, dass auch Rangnick links in der Viererkette auf einen Rechtsfuß setzte. Der bei Sacchi allerdings Paolo Maldini hieß und bei Rangnick nur Hans Sarpei.
5. Glück (zuh)auf
Ohne Zweifel hatte Schalke es sich auch erarbeitet, aber das Glück des Tüchtigen griff dem Außenseiter in einer entscheidenden Spielphase zwischen der 40. (beim Stand von 2:1 für Inter) und der 62. Minute mehrmals unter die Arme.
Vor allem vor dem 2:2 kurz vor der Pause, aber auch beim 3:2 kurz danach wurden Schüsse zugunsten der Schalker abgefälscht – vielleicht wäre aus Rauls Führungstreffer sogar eine Fußabwehr Julio Cesars geworden. Zwischen den beiden Schalker Toren hatten Milito (knapp vorbei) und Eto’o (stark pariert von Neuer) große Mailänder Chancen ausgelassen, was natürlich in erster Linie Inters Unvermögen zuzuschreiben war – den Spielverlauf aber auch massiv hätte verändern können.
Dies taten stattdessen ein tendenziell vermeidbares Eigentor und die Gelb-Rote Karte für Cristian Chivu, die aus objektiver Sicht eindeutig zu hart und wohl eine Fehlentscheidung war. Mit einer 4:2-Führung nach 62 Minuten und einem Mann mehr ließ S04 schließlich nichts mehr anbrennen.

6. José would never
Ohne die Schalker Leistung schmälern zu wollen: Ja, Inter Mailand war amtierender Triplesieger; nein, das war nicht mehr zu 100 Prozent das Ensemble von 2009/10. Eine gewisse Zentrumsstabilität hatten die Mailänder zwar nach wie vor, kollektives Defensivverhalten und gefährliches Konterspiel waren seit Mourinhos Abgang aber merklich verblichen.
Inter war spürbar auf Geistesblitze und individuelle Durchbrüche seiner Angreifer Milito, Wesley Sneijder oder Samuel Eto’o angewiesen, im Verbund agierten die Nerazzurri selten wirklich fließend. In der Defensive herrschte teils großes Zuordnungschaos wie vor dem 1:1 durch Joel Matip.
Verteidiger, die zu regelmäßig “out of position” oder zu spät dran waren, sprachen nicht die fußballerische Sprache des damals noch wirklich speziellen “Special One”. Dass Inter 2010/11 nicht mehr Inter 2009/10 war, hatte im Achtelfinale gegen Bayern bereits die Neuauflage des Vorjahres-Endspiels bewiesen. Vom Ausgang mal abgesehen.
7. Gimme … seven?
5:2 bei Triplesieger Inter – ein Ergebnis, an das sich Schalker noch viele Jahre erinnern werden. Fiel es allerdings zu hoch aus? Vielleicht müsste man eher die Frage stellen, ob es nicht sogar zu niedrig ausfiel.
Zwar hätte auch Inter in einer chancenreichen Partie durchaus ein dritter Treffer gelingen können, Schalke dann aber auch ein sechster, siebter oder achter. Alleine beim Aluminium durften sich die Italiener zweimal bedanken, dass sie nicht noch höher abgeschossen wurden. Trotz 5:2-Spektakel – gute Chancen auf weitere Tore hat es definitiv gegeben.
8. Ranocchia
Durch die doppelte Flügeldeckung der Schalker war Maicon relativ unauffällig geblieben, Chivu hatte bereits nach einer Stunde die sehr harte Ampelkarte gesehen. Im Prinzip konnte in Inters Viererkette nur Routinier Javier Zanetti – als Linksverteidiger aufgeboten – einigermaßen überzeugen. Der Vierte im Bunde, dessen Name in Deutschland vielerorts eigentlich nur im Zusammenspiel mit Wolff Fuss’ Ausruf “EIGENTOR!” funktioniert, war ehrlich zu bemitleiden.
Mailands einzige echte personelle Neuerung zur Triple-Saison erlebte am 5. April 2011 einen rabenschwarzen Tag. Beide Abfälschungen vor dem 2:2 und dem 2:3 kamen von Ranocchia, dem anschließend noch ebenjenes vorentscheidende Eigentor unterlief. Natürlich drängt sich daher auch das Gedankenspiel mit einem einsatzfähigen Lucio auf.
9. Von wegen Außenseiter
In der entscheidenden Phase einfach Glück gehabt und durch geschicktes, effizientes Konterspiel eiskalt zugeschlagen? Kam für Schalke in San Siro einfach alles zusammen? Nein, die Gäste waren von A bis Z größtenteils mindestens gleichwertig und beide Siege über Inter alles andere als unverdient.
Es ließ sich tatsächlich nur schwer erkennen, welches Team denn eigentlich der Triplesieger war, was sich auch statistisch ausdrückte: Beispielsweise 18:17 Schüsse und 53:47 Prozent Ballbesitz pro Inter (whoscored.com) belegen, dass sich der große Favorit und Schalke auf absoluter Augenhöhe begegneten. 2021 ist das ein etwas surrealer Satz.

10. Verlagern
Wären die Nerazzurri ein bisschen aufmerksamer oder ihnen der Sacchi-Fußball noch etwas präsenter gewesen, hätten sie wohl zu dem Entschluss kommen müssen, ihr Heil in vielen dynamischen Verlagerungen zu suchen, wann immer die Schalker mal wieder weit auf die ballnahe Seite verschoben hatten. So hätte Inter sie nicht nur mehr und mehr auspowern, sondern defensiv – etwa durch Zanetti oder Maicon über außen – auch immer wieder in die Bredouille bringen können.
Während aber auf Schalker Seite José Manuel Jurado wie ein Weltmeister dirigierte, gingen dem hierfür primär zuständigen Mailänder Sneijder, der auf der Flucht vor einem unerbittlichen Kyriakos Papadopoulos viel umherdriftete, die nötige Entscheidungsfreude und -schnelligkeit ab. Hier ließ Inter wohl die größte Chance liegen, eine der wenigen Schwachstellen an diesem Abend überlegener Schalker auszunutzen.