War der 5. Juli 1982 der Tag, an dem der schöne Fußball starb? Ich habe mir das größte Spiel des Paolo Rossi noch einmal angeschaut. Und analysiert.
In der Zwischenrunde der WM 1982 bildeten Titelverteidiger Argentinien, Top-Favorit Brasilien und der spätere Weltmeister Italien eine wahre “Todesgruppe” – nur ein Team konnte das Halbfinale erreichen. Da die Brasilianer die Argentinier höher geschlagen hatten (3:1) als die Italiener (2:1), hätte der Selecao im entscheidenden Spiel auch ein Unentschieden gereicht. Besonders weil es für fantastische Brasilianer jedoch nicht reichte, erlangte diese Partie große Berühmtheit.
Paolo Rossi, der wegen seiner Rolle im damaligen italienischen Wettskandal und seiner Torlosigkeit im bisherigen Turnierverlauf schwer in der Kritik stand, schoss die Azzurri überraschend dreimal in Führung und schließlich zum benötigten 3:2-Sieg – einem Sieg, der auch als einer des effizienten Fußballs gegen den schönen betrachtet wird.
Italien: Zoff – Scirea – Oriali, Collovati (34. Bergomi), Gentile, Cabrini – Conti, Tardelli (76. Marini), Antognoni – Rossi, Graziani.
Brasilien: Peres – Leandro, Oscar, Luizinho, Junior – Cerezo, Falcao – Socrates, Zico, Eder – Serginho (68. Paulo Isidoro).
Tore: 1:0 Rossi (5.), 1:1 Socrates (12.), 2:1 Rossi (25.), 2:2 Falcao (68.), 3:2 Rossi (75.).
1. Ein guter Kicker
Der 2020 verstorbene Rossi konnte zwar auch einen ziemlich klassischen Neuner geben, gerade bei Juve füllten um ihn herum Größen wie Michel Platini, Zbigniew Boniek oder Roberto Bettega die übrigen offensiven Rollen aus. Er konnte für einen Stürmer seiner Zeit jedoch auch ziemlich gut mit dem Ball umgehen und ordentlich dribbeln.
Gegen Brasilien ließ sich der Rechtsfuß gelegentlich auf den linken Flügel oder gar in die Tiefe fallen. Wenn er in der Mitte gesucht wurde, besetzte er jedoch diese. Seine drei Tore erzielte Rossi übrigens aus nur vier (sehr guten) Chancen – allerdings hätte er freistehend eigentlich auch die vierte verwerten müssen.
2. Totaler Fußball
Um der rigorosen Manndeckung der italienischen Abwehrspieler zu entfliehen, rochierte die ästhetisch wohl umjubeltste Selecao der Geschichte kräftig durch. Beinahe im Stile von Hollands Totalfußballern der 1970er fiel etwa Außenstürmer Eder zum Aufbau in den Sechserraum zurück, Innenverteidiger starteten auf die Flügel und einrückende Außenverteidiger tauchten im Angriffszentrum auf. Wenn diese Selecao überhaupt eine Formation hatte, war es eine Art 2-7-1.
Bis ins gegnerische Drittel tat das dem Spielfluss der Brasilianer auch sehr gut – dann fehlte der letzte Punch.
3. Italiens Spiel
Um die radikale Folklore ein wenig zu sprengen: Ganz so destruktiv wie überliefert spielten die Italiener sicherlich nicht. Obwohl das Team von Trainer Enzo Bearzot gewissermaßen eine Art Catenaccio praktizierte: Vor Libero Gaetano Scirea reihte sich zwischen oder vor drei Manndecker der Zico-Bewacher Claudio Gentile ein, der mit Scirea dadurch oft für einen 1-3-1-Riegel im Abwehrkonstrukt sorgte.
Die grundsätzlich weiterentwickelte Form des Catenaccio nannte sich “Gioco all’italiana” – Italiens Spiel – und kombinierte den Riegel mit modernerer Raumdeckung im Mittelfeld, das in einem recht konsequenten Positionsspiel auch in Ballbesitz zahlreicher besetzt war als früher. So konnte Italien die Partie ausgeglichener gestalten.
Dafür, dass sie in 67 der 91 Spielminuten eine Führung zu verteidigen hatten, lauerten die gelegentlich natürlich tiefstehenden Italiener zudem erstaunlich oft auf Konter (auch das ist Teil des Catenaccio, Spezialist Bruno Conti) und trugen diese stets mit mehreren Angreifern vor. Bei Gleichstand bewiesen sie – wenn auch ohne den brasilianischen Flair – ihre ausgeprägten fußballerischen Fähigkeiten. Mit Conti, Rossi, Scirea, Antonio Cabrini oder Marco Tardelli standen ja auch sehr begabte Spieler in ihren Reihen.

4. “Gentle” Gentile: Zico ungleich Maradona
Neben Paolo Rossi hieß der große italienische Matchwinner Claudio Gentile. Hatte das Raubein, das gegen Brasilien eine frühe Gelbe Karte sah, im Spiel gegen Argentinien noch dessen Schlüsselspieler Diego Maradona sage und schreibe 23-mal gefoult, nahm es den wichtigsten Offensiv-Akteur der Brasilianer, Zico, mit für seine Verhältnisse geradezu fairen Mitteln (“nur” acht Fouls) fast komplett aus dem Spiel. Auch wenn er ihm das Trikot zerriss.
Wie ein Besessener verfolgte Gentile den gegnerischen Spielmacher auf Schritt und Tritt, der im Gegensatz zu Maradona zwar eine Torvorlage beisteuerte, sich aber wohl wesentlich öfter hätte zurückfallen lassen müssen, um mehr am Spiel teilnehmen oder mehr Räume für seine Kollegen schaffen zu können.
5. Knackpunkt Serginho
Eine große Schwachstelle dieser Traumfußball zelebrierenden Selecao war Mittelstürmer Serginho. Wie der etatmäßig gesetzte Reinaldo fehlte auch der aufstrebende Careca einer im Mittelfeld genialen Mannschaft, die an ihrer Nummer neun verzweifelte.
In der Anfangsphase vergab Schlaks Serginho auf technisch höchst plumpe Weise einen Hochkaräter, auch ansonsten “tötete” seine limitierte Technik gepaart mit schwachem Positionsspiel diverse aussichtsreiche brasilianische Angriffe ab. Eine derart krasse Schwächung, dass man fast behaupten kann: Mit Reinaldo statt Serginho hätte Brasilien dieses Spiel gewonnen.
6. Die Räume hinter Cabrini
Brasilien agierte mit Ball in einer Art Viererkette mit Abräumer Cerezo und Balltreiber Falcao davor. Links gab es mit Eder einen Außenstürmer, während die rechte Seite aus dem Zentrum heraus von den offensiv ausgerichteten Mittelfeldspielern Zico und vor allem Socrates bespielt werden sollte – was aber nur bedingt der Fall war.
Hinter Italiens offensivstem Mann im Abwehrverbund, Linksverteidiger Cabrini, der sich von Socrates immer wieder rausziehen ließ, hätten sich für die Brasilianer wertvolle Räume angeboten, in die sie jedoch kaum stießen.
Der in der zweiten Hälfte recht blasse Socrates hielt sich zu sehr zurück, Zico war “angekettet” – und Serginho fußballerisch wohl zu limitiert, um raus auf den rechten Flügel zu ziehen und damit auch die Mitte weiter aufzureißen.
7. Zwei bittere Aussetzer
Was für ein lässiger Typ Toninho Cerezo war, der weit mehr spielte als den klassischen Staubsauger, sah man schon an seinen heruntergelassenen Stutzen. Viel zu lässig jedoch schlug er vor dem 2:1 für Italien in der eigenen Hälfte einen ungenauen Querpass, den Rossi auch dank der Uneinigkeit gleich dreier brasilianischer Verteidiger abfing und – ziemlich mittig – ins Tor schoss. Ein Beweis für eine generelle defensive Nachlässigkeit, vor allem aber für das horrende Stellungsspiel von Schlussmann Valdir Peres, der neben Serginho zweiten großen Schwachstelle der Brasilianer.
Peres war auch beim 3:2 für Italien nicht gänzlich unbeteiligt, weil er Cerezos unkonzentrierte Kopfball-Rückgabe nicht mehr vor der Torauslinie aufnehmen konnte. Nach der folgenden Ecke – aus dem Spiel heraus gelang den Azzurri zu diesem Zeitpunkt kaum mehr etwas – fiel der entscheidende Nackenschlag.
8. Raumgreifender Doppelpass
Welch starkes Mittel gegen eine stoische Manndeckung – natürlich auch glänzend vorgetragen von den hochbegabten, aber zumeist abgemeldeten Socrates und Zico. Socrates spielte von der Höhe des Mittelkreises mit einem scharfen Veritkalpass Zico an, der sich per Hackentrick einmal genial von Gentile lösen konnte und sofort den durchsprintenden Socrates in den Strafraum schickte.
Zum “Doktor” schloss nur noch Libero Scirea auf, wegen seiner Geschwindigkeitsnachteile aber nicht mehr entscheidend. Socrates traf zum 1:1 in der 12. Minute – ein solcher Spielzug ward hinterher jedoch nicht mehr gesehen. Schade.
9. Der Waffen beraubt
Zu Toren gekommen war die Selecao im Turnierverlauf bis dato vor allem durch Fernschüsse, was sie gegen einen starken, obwohl schon 40-jährigen Dino Zoff kaum versuchte – und durch schnelles Umschaltspiel. Italien bot Falcao, Socrates und Co. aber weder die nötigen Räume noch die entscheidenden Passlinien an, sodass die Südamerikaner, die kaum ins Tempo kamen, im Endeffekt ihrer größten Waffen beraubt wurden.
10. Schönheit oder Naivität?
Nach dem 2:2 durch Falcao (68.), das ihr für das Halbfinale gereicht hätte, tat die Selecao, deren Restverteidigung überraschend passabel war, erst einmal gut daran, weiter anzugreifen und die Azzurri zurückzudrängen. Fatal war vielmehr die leichtfertig hergeschenkte Ecke (beschrieben in Punkt sieben), die über die zweite Welle beim völlig blank stehenden Rossi landete, weil fast alle kanariengelben Hemden sich schon wieder nach vorne orientiert hatten (75.).
Anschließend setzte Brasilien nicht mehr auf sein typisches, schönes Flachpassspiel, sondern begann plötzlich, einige Flanken in die verdichtete Mitte zu schlagen – ausgerechnet dann, als Hüne Serginho bereits ausgewechselt worden war.
Nach einem Freistoß griff sich Zoff Oscars Kopfball gerade noch vor der Linie, ansonsten gelang es dem Top-Favoriten nicht mehr wirklich, eine tief stehende Defensive dieser Qualität zu entschlüsseln. Socrates schoss nach einem Steckpass zum vermeintlichen 3:3 ein – ob es wirklich Abseits war, klärten die TV-Bilder nicht auf. Auf der Gegenseite war den konternden Italienern übrigens fälschlicherweise das 4:2 wegen angeblichem Abseits aberkannt worden.
Starb am 5. Juli 1982 also wirklich der schöne Fußball, wie Zico später zitiert wurde? Der Journalist David Miller datierte das allgemeine Umschwenken von “Lust auf den Sieg” zu “Angst vor der Niederlage” einst auf die späten 1970er Jahre. Zu dieser Entwicklung hin zum Pragmatismus mag auch Enzo Bearzots Italien einen Teil beigetragen haben, das den Catenaccio/das Gioco all’italiana, die sich ja auch über ihr Konterspiel definierten, noch einmal aufleben ließ.
Darüber hinaus dürfte dieses Zwischenrundenspiel als einschneidender Wendepunkt wahrscheinlich hochstilisiert sein. Wobei auch das in Bezug auf die Selecao nicht der kompletten Wahrheit entspricht: Spätestens seit 1994 – ob der anhaltenden Titellosigkeit – liegt der primäre Fokus der Brasilianer auf einer stabilen Defensive. Was sich bei genauem Hinsehen über die 1990er und auch den Titel 2002 tatsächlich bis in die heutige Zeit durchzieht – trotz zahlreicher Offensiv-Künstler. Dem Zufall soll möglichst nichts mehr überlassen werden.
Am Ende des Tages ist also auch dies das Vermächtnis der Generation Zico und Socrates, die 1986 in Mexiko – bereits in die Jahre gekommen – mit ihrem verträumten Fußball auch ein zweites Mal gescheitert war.