Jock Stein: BIS ZUM BITTEREN ENDE

Nahezu alles, was Sir Alex Ferguson als Trainer auszeichnete, hatte er sich von seinem Mentor Jock Stein abgeschaut. Auch wenn ihr letzter gemeinsamer Moment tragisch endete.

So nah – und doch so fern. Das hatte sich George Stein nun wirklich nicht darunter vorgestellt, als er sich inständig gewünscht hatte, dass sein Sohnemann es einmal zum Fußballprofi bringen würde. Es hätte doch jeder andere Verein sein dürfen, aber ausgerechnet Celtic? Als Protestant? Das sollte das Vater-Sohn-Verhältnis nachhaltig prägen. Es hätte John, genannt Jock, aber schlimmer treffen können. Sein bester Freund hatte ihm immerhin die Freundschaft gekündigt.

Dabei hatte Jock doch ganz uneigennützig gehandelt. Weil seine Frau Jean samt Kind nach wenigen Monaten in Wales, wo es der mäßig begabte Mittelläufer schließlich zum Vollprofi geschafft hatte, mehr und mehr das Heimweh plagte, kehrten sie gemeinsam in die schottische Heimat zurück. Jock hatte sich sogar darauf eingestellt, wieder in den Kohleminen von Lanarkshire zu schuften, denen er durch den Fußball doch eigentlich zu entkommen versuchte. Und dann lag plötzlich nicht ein Angebot der Rangers auf dem Tisch, sondern eben eines von Celtic. Saurer Apfel.

Für Jock, der viele seiner Liebsten im erzreligiösen Schottland mit dieser Entscheidung verprellt hatte, wurde der Apfel jedoch immer süßer. Nicht ganz unbegründet wurde er mit Ende 20 bereits auf dem absteigenden Ast gewähnt, als der eigentlich für die zweite Mannschaft verpflichtete Stein mitten in einer Verletzungsmisere auf einmal für Celtics Erste auf dem Rasen stand. Seine Professionalität ließ viele Kritiker bald verstummen.

Kein Jahr sollte es dauern, bis Stein erst zu dessen Stellvertreter und schließlich zum Mannschaftskapitän höchstselbst ernannt wurde. Das stellte dann irgendwie auch den Vater zufrieden, auch wenn ihm ein “Viel Glück” oder ähnliches nie über die Lippen kam. Glück war für seinen Sohn ohnehin zweitrangig gewesen, als er die Hoops 1954, nach fast 20 Jahren Wartezeit, wieder zum schottischen Meister machte.

Im darauffolgenden Sommer durfte Jock zur WM in die Schweiz reisen, wo er die vermeintlich unbesiegbaren Ungarn, die er 1953 schon in Wembley gesehen hatte, genau unter die Lupe nahm. Während anhaltende Knöchelbeschwerden seine Spielerkarriere nur noch zwei weitere Jahre andauern ließen, wollte sich der Stratege bereits auf das Leben danach vorbereiten. Es wurde ein nahtloser Übergang.

Der Spieler Stein führt Celtic als Kapitän aufs Feld. – Bild: The Celtic Wiki

Steins zweite Karriere begann dort, wo die erste aufgehört hatte: als Jugendtrainer bei Celtic. Als ihm jedoch ziemlich schnell klargemacht wurde, dass er, der Protestant, über diesen Status nicht hinauskommen würde, nahm Jock 1960 ein Angebot als Cheftrainer von Dunfermline an. Wenig später staunte Celtic ein zweites Mal nicht schlecht. Kurz nachdem Dunfermlines Abstiegssorgen wie vom Winde verweht worden waren, mussten die Hoops mit ansehen, wie Steins Mannschaft sie im Ligapokalfinale in die Schranken wies. Spätestens als er bald darauf auch Hibernian quasi über Nacht wieder relevant gemacht hatte, mussten sie sich in Glasgow noch einmal zusammensetzen.

Jock, der erst Anfang 40 war, erhielt große Anerkennung für sein Spielverständnis, das seine Mannschaften immer ein bisschen intelligenter wirken ließ als ihre Gegner. Aus sportlicher Sicht hatte es Celtic bestimmt keine Überwindung gekostet, ihn 1965 als ersten protestantischen Cheftrainer einzustellen. Und die Zeit heilte schnell auch alle anderen Wunden: Sechs Wochen später gewann Celtic den Pokal. Und das war erst der Anfang.

Stein wurde zu Celtic, und Celtic war bald Stein. Mehr noch als zu Spielerzeiten. Jock war der Trainer im Trainingsanzug, in den Einheiten aktiv beteiligt – und nicht nur dadurch seiner Zeit voraus. Der Ball spielte eigentlich immer eine Rolle, so auch der Individualist. Ob auf Psychologie setzendes “Man-Management” oder akribische Taktikanalysen von eigener und gegnerischer Mannschaft: Steins Methoden setzten neue Maßstäbe. Der Trainer, der in Wahrheit mehr war als das, entschied sogar, was seine Spieler aßen und in welchen Hotels sie auswärts unterkamen. Dem Zufall wurde wenig überlassen.

Und so dürfte es auch kein Zufall gewesen sein, dass Celtic, zuvor acht Jahre ohne überhaupt einen Titelgewinn, in Steins erster kompletter Saison als Trainer wieder Meister wurde. Erstmals seit 1954, als Jock die Führungsrolle noch auf dem Platz gehabt hatte. Diesmal war sein Einfluss noch immenser. Tag für Tag kam er als Erster, tat im Verein eigentlich alles, und ging als Letzter. Ein guter Schläfer, meinte er einmal scherzhaft, sei er sowieso nicht gewesen. Der Mann, dessen Herzschlag auch des Herzschlag des Klubs war. Eine Vaterfigur, charakterlich zwar nicht unumstritten, doch für den Trainer Stein gingen seine Spieler durchs Feuer.

Sie gingen, so weit ihre Füße und Stein sie trugen. Und die trugen sie weit. Celtic, das seine Titel zuvor bekanntlich tröpfchenweise gewonnen hatte, wurde ab 1966 insgesamt neunmal in Folge Meister. Zehn Titel hintereinander gab es in Schottland bis heute nicht. Was Jocks Hoops aber wirklich besonders machte, ereignete sich im Sommer 1967. Es war brütend heiß in Lissabon. Und die “Lisbon Lions” waren auf einer Mission.

Mit einer Elf, die aus Spielern bestand, die allesamt aus einem Radius 30 Meilen um Glasgow stammten, wollte Stein im Landesmeister-Finale gegen Inter nicht irgendwie triumphieren. “Wir sind verpflichtet, das Spiel auf unsere Weise zu spielen”, vermachte sich Jock vor dem Showdown gegen Europas Hochburg des Catenaccio seinem ausländisch geprägten Offensivspiel. “Es ist immer unser Ziel, mit Stil zu gewinnen.”

Dann aber führte Inter, führte der Catenaccio schon früh mit 1:0 – und alle wussten, was das hieß. Dennoch ließen sich Stein und Celtic auch in diesem Moment nicht von ihrem Plan abbringen und triumphierten schließlich so überzeugend mit 2:1, dass sie hinterher sogar Inters kauzigem Trainer Helenio Herrera ein Schmunzeln abgewinnen konnten: “Wir haben zwar verloren”, gestand der Argentinier, “aber es war ein Sieg für den Fußball”.

Durch die Saison 1966/67, in der Celtic Meisterschaft, Pokal, Ligapokal und Europapokal vereinte, stieg Stein endgültig in die Phalanx der schottischen Trainergiganten auf: Matt Busby, Bill Shankly, Jock Stein. Ein Jahr vor Busbys United war es ihm gelungen, die erste britische Mannschaft zum Henkelpott zu führen – woraufhin Shankly seinem Landsmann zuraunte: “Jetzt bist du unsterblich, Jock.”

Der Ritterschlag blieb Stein verwehrt. Weil er, was Jahrzehnte später als tatsächlicher Grund bekannt werden sollte, für seine Mannschaft geradestehen musste, als sich diese im skandalösen Weltpokalfinale gegen den argentinischen Klub Racing dessen Provokationen und Tretereien hingegeben hatte. Anders als mit einem abgelehnten Angebot von Manchester United, wie er gegenüber Freunden einräumte, konnte Jock damit aber leben. Sein persönlicher Ritterschlag war es ohnehin gewesen, als er 1978 die schottische Nationalmannschaft übernehmen durfte.

Nach einem Autounfall, den Stein 1975 beinahe nicht überlebt hätte, war das Ende einer großen Celtic-Mannschaft immer näher gekommen. Als ihn die Hoops wenige Jahre später von der Trainerbank in die Vorstandsetage versetzen wollten, entgegnete er allerdings empört: “Lieber sterbe ich am Spielfeldrand als in einer Direktorenloge zu verschimmeln” – und kündigte. Leeds United nutzte die Gunst der Stunde, wo es Jock – wie schon Brian Clough – aber nur 44 Tage aushielt. Denn dann meldete sich die Nationalmannschaft. Das hätte wohl auch den Vater gefreut.

In Steins bis dato prestigeträchtigster Funktion war der Erfolg rarer gesät. Eine Endrunde bei Europameisterschaften, wo damals noch weniger Nationen teilnehmen durften, erreichten die Schotten nie. Bei Weltmeisterschaften sah das anders aus. Mit fünf Toren gegen Neuseeland und einem herrlichen Führungstreffer gegen Zicos fantastische Brasilianer schürte eine große schottische Generation um Kenny Dalglish, Alan Hansen und Graeme Souness bei der WM 1982 Erwartungen – aufgrund des schlechteren Torverhältnisses schied sie aber noch in der Vorrunde aus.

1986 sollte es besser laufen. In der Quali, während der sich Stein Aberdeens Trainer Alex Ferguson als Assistenten an seine Seite holte, überzeugten die Schotten auch stilistisch – vor allem beim 3:1 gegen Spanien. Hinten raus aber wurde die Luft dünn. Um im letzten Qualifikationsspiel noch einen Play-off-Platz zu erreichen, musste Schottland am 10. September 1985, im Ninian Park zu Cardiff, mindestens ein Remis gelingen. Ohne Dalglish, ohne Hansen, ohne Souness. Gegen Waliser um Mark Hughes, Neville Southall und Ian Rush. Druck.

Stein, der schon vor der Partie über Unwohlsein geklagt hatte, war mehr als nervös. Erst recht, als Hughes Wales in der 13. Minute in Führung schoss. Dennoch präsentierte sich Jock in typisch staatsmännischer Manier am Spielfeldrand, als es neun Minuten vor dem Ende einen Elfmeter für Schottland gab. Der eingewechselte Davie Cooper verwandelte, euphorisierte Schotten brachten den benötigten Punkt schließlich über die Ziellinie.

Inmitten aller Heiterkeit erlitt der herzkranke Stein, der seine Medikamente in den Tagen vor dem Entscheidungsspiel kaum noch eingenommen hatte, plötzlich ein fatales Lungenödem. TV-Kameras fingen noch ein, wie Schottlands Trainergigant in den medizinischen Versorgungsraum des Stadions getragen wurde. Wenig später verstarb er dort, mit gerade einmal 62 Jahren.

Steins Schüler, der sich dessen Professionalität und Omnipräsenz zum Vorbild genommen hatte, sorgte schließlich dafür, dass die letzte Mission seines Lehrers noch erfüllt werden konnte. Bei der WM 1986 in Mexiko übernahm Alex Ferguson die schottische Nationalmannschaft – und wenig später Manchester United.

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