José Leandro Andrade: MEHR BECKHAM ALS PELÉ

Sage und Wirklichkeit verschwimmen auf den Pfaden, auf denen José Leandro Andrade als Erster auf den Olymp des Weltfußballs tänzelte. Über ein Leben, das auch sensationell wäre, wenn nur die Hälfte der Geschichten wahr ist.

In einem Kimono stolzierte José Leandro Andrade die Treppe hinab, begleitet von Frauen, die noch weniger am Leib trugen. Wenn Angel Romano die Gesichtszüge nicht entgleisten, dann nur, weil sie ihm erstarrt waren.

Man hatte Romano hinausgeschickt in die Pariser Nacht, um einen Kameraden einzufangen, der nicht mehr einzufangen war. Gemeinsam waren sie bei den Olympischen Spielen 1924 drauf und dran, das schöne Spiel zu einem Weltsport zu machen. Doch José Leandro, ein armer Junge aus Uruguay, hatte soeben vom schönen Leben gekostet. Noch bevor sie ihm eine Goldmedaille umhängten, hatte sich Andrade in den Hochburgen der Boheme verloren.

Wie es im Detail passierte, das weiß knapp 100 Jahre später keiner mehr so genau. Als erster Weltstar des Fußballs ist Andrade zwar vielerorts noch ein Begriff, doch sein Leben und Wirken lässt sich manchmal – wie die wenigen Bilder, die die Zeit überdauerten – nur schemenhaft nachzeichnen. Mit seiner Geburt, die nicht nur einem Datum zugeordnet wird, hatte das alles ja schon begonnen. Mit seinem Vater, einem ehemaligen Sklaven, dem magische Kräfte nachgesagt wurden. 98 Jahre soll er bei der Geburt seines angeblichen Sohnes bereits alt gewesen sein.

In Salto erblickt José Leandro – wie später Luis Suarez oder Edinson Cavani – wahrscheinlich im November 1901 das Licht der Welt, doch er wächst bei einer Tante in Montevideo auf. Auf dem Erdboden schlafend fängt er sprichwörtlich ganz unten an. Uruguay pflegt in Südamerika damals den fortschrittlichsten Umgang mit allerlei Rassen, sodass sich der dunkelhäutige Andrade vom stereotypischen Schuhputzer zum talentierten Musiker und Tänzer hocharbeiten kann. Er fühlt den Tango wie kein Zweiter, schwärmen die einen. Andere sagen der Verwirklichung seiner Körperkunst verruchtere Züge nach.

Ein Spion wird hinters Licht geführt

In jedem Fall gilt einer der begabtesten jungen Fußballer des Landes schon als schriller Vogel, als er beinahe noch ein Niemand ist. Großklub Penarol wägt die Risiken ab und verzichtet, der Durchbruch gilt Andrade bei Bella Vista. Bella Vista, der schöne Anblick. Dieser Name hätte kaum treffender sein können für einen, der 1924 als einfacher Fußballer nach Paris aufbrach, als solcher jedoch nicht mehr zurückkehren sollte.

Durch den Sieg bei einem Vorläufer der Copa America hatte sich Uruguay für das olympische Fußballturnier qualifiziert, erstmals spielten Südamerikaner in Europa. Und erstmals bekamen die Europäer einen schwarzen Nationalspieler zu sehen: Andrade. Keiner wusste, was zu erwarten war von diesen unbekannten Exoten, die den Atlantik wie Matrosen dritter Klasse überquert hatten. Und so schmiedeten die Jugoslawen, Uruguays erster Turniergegner, einen Plan.

Sie schickten einen Spion zum Training der “Urus”, die natürlich nicht auf den Kopf gefallen waren. Den mysteriösen Gast bemerkend boten Andrade und Co. ein regelrechtes Schauspiel dar, auf verhunzte Ballannahmen folgten abstruse Fehlpässe und Torschüsse, die dem Tor noch nicht einmal nahekamen. Jugoslawiens in Kenntnis gesetzter Trainer entschuldigte sich bereits vor dem Spiel dafür, was Uruguay sogleich widerfahren würde.

Vor gerade mal ein paar hundert Zuschauern führten die Exoten ihren mehr als überraschten Gegner mit 7:0 vor. Danach half auch keine Entschuldigung mehr. “Wie Vollbluthengste gegen Bauernhofpferde”, beschrieb Gabriel Hanot, späterer Gründervater von Europapokal und Ballon d’Or, eine Mannschaft, wie Europa sie noch nicht erlebt hatte. Andere arbeiteten den Fußball, die Celeste zelebrierte ihn. Und keiner zelebrierte ihn so wie Andrade.

Von der Position eines gestaltenden rechten Läufers agiert er, der Anfang bis Mitte 20 gewesen sein muss, wie ein Urahn Trent Alexander-Arnolds – das aber mehr im schier süffisanten Stil eines Paul Pogba. Seinem weitgehend körperlosen Spiel wohnt laut Zeitzeugen eine geradezu erotische Athletik inne. Rasentango. Andrade, mit etwa 1,80 Metern für diese Zeit hünenhaft, ist das große Highlight der Spiele. Dabei schießt er in Paris kein einziges Tor.

Schon bei Uruguays zweitem Spiel quetschen sich die Menschen auf die Ränge, alle wollen das “schwarze Wunder” sehen, das zu einer fußballerischen, aber auch zu einer kulturellen Sensation wird. Alle, das sind nicht nur die, die sich für den Fußball interessieren. Auch wenn sich Hans Ulrich Gumbrecht sicher ist, dass diese Mannschaft dem heutigen Weltsport zu seinem internationalen Durchbruch verhalf.

Das Turnier ist noch in vollem Gange, da reißen die Reichen und Schönen dieser sündigen Hauptstadt Andrade an sich. Und er vermacht sich ihnen mit Haut und Haaren. Mit Colette, Frankreichs “Grande Dame” des Varieté, soll er verkehren, auch mit der legendären Tänzerin Josephine Baker. So heißt es zumindest. Begegnet sind sie sich auf jeden Fall. Jeder will ein Teil von diesem Beau samt seinem betörenden Charme. Und er will Teil einer Welt werden, von deren Existenz er Wochen zuvor noch nicht einmal ahnen konnte.

Andrade kehrt als umjubelter Olympiasieger nach Uruguay zurück, aber auch als dekadenter Dandy. Mit gelben Handschuhen, teurem Mantel, Lederschuhen, feiner Krawatte und hohem Hut geht er an Land, mit seinen Kameraden hat er da nicht mehr viel gemein. Einen großen Empfang, den Montevideos schwarze Gemeinde für ihr Idol organisiert, lässt dieses einfach sausen. Ohne Begründung, aus der Laune heraus. Einen rücksichtslosen Egoisten schimpfen sie Andrade schon damals, er selbst macht keinen Hehl daraus.

Während sich der Brasilianer Artur Friedenreich als “erster Pelé” zum wahren König einer neuerschlossenen Fußballwelt aufschwingt, biegt José Leandro Andrade, ganz bewusst, eher in Richtung David Beckham ab. Ein faszinierender Spieler, doch die Nebenschauplätze dominieren. Vielleicht wechselt Andrade aus Trotz zu Penarols großem Rivalen Nacional, der große sportliche Erfolg bleibt jedenfalls aus. Nicht aber der große kulturelle.

Das “schwarze Wunder” jagt dem Ball nach. – Bild: merahputih.com

1925, ein Jahr nach Olympia, tourt Nacional durch Europa. Die Leute strömen nur so in die Stadien. Doch die Hälfte der Spiele findet ohne Andrade statt, der die Tanzflächen den Spielfeldern vorzieht und auch ohne Goldmedaille tief in den goldenen Zwanzigern verschwindet. Es war nicht alles Gold, was glänzte. Als der verschwundene Künstler mit zwei Monaten Verspätung alleine in Uruguay eintraf, stand kein Dandy mehr vor seinen Landsleuten.

Untergewichtig wirkte er, gar depressiv. Er fühle sich nicht gut, sagte José Leandro, und begab sich in Behandlung. Während der Tournee hatte ihm ein Arzt in Brüssel Syphilis diagnostiziert – viel zwangsläufiger war auch der Olympiasieg nicht gewesen.

Die Krankheit ergriff schleichend Besitz vom Star, dessen Popularität seine Leistungen mit den Jahren überstrahlte. Schon 1928, als Uruguay zu den Olympischen Spielen in Amsterdam nach Europa zurückkehrte und 250.000 Ticketanfragen das Finale zehnmal hätten ausverkaufen können. Andrade tat, was Andrade tat – auf und neben dem Platz. Doch die Ausnahmeerscheinung war er hier wie dort nicht mehr.

Viele Fähigkeiten waren noch da, doch körperlich baute das “schwarze Wunder” ab. Die Syphilis zersetzte den Modellathleten förmlich, auch die Kollision mit einem Torpfosten im Halbfinale 1928 trug dazu bei, dass er mit der Zeit auf einem Auge erblindete. Andrade war zu einem von vielen geworden, als sich Uruguay 1930 zum ersten Weltmeister krönte. Die Antwort der FIFA auf das olympische Spektakel; ein Turnier, für dessen Entstehung in erster Linie diese Ausnahmemannschaft gesorgt hatte.

Andrade gelang, wie später nur Pelé (wenn auch nicht in Serie), der Hattrick, weil die FIFA das Gold von ’24 und ’28 als offizielle Welttitel anerkannte. Doch das WM-Finale war sein letztes Länderspiel und der Punkt, an dem der Star ohne den Fußballer immer mehr verloren ging. In ganz unterschiedlichen Sparten blieben einige Kameraden nach ihrer aktiven Zeit erfolgreich – der Gang des alkoholkranken Egomanen war ein nur zu klassischer Niedergang.

Auch sein Neffe wird Weltmeister

José Leandro, vergilbt wie all seine Zeitungsartikel, war längst in der Versenkung verschwunden, als ihn die FIFA zur WM 1950 als Ehrengast lud. Er sah seinen Neffen Victor triumphieren, vielleicht ein letzter Moment des Glücks. Wenn es denn keiner der Missgunst war. Doch die Zeit nach der Karriere des ersten Stars des Weltfußballs ist noch weitaus ungeklärter als die zuvor.

Als ziemlich gesichert gilt, wie jede Nachzeichnung Andrades endet. Zunächst mit dem deutschen Journalisten Fritz Hack, der Montevideo 1956 eine Woche lang absucht – wesentlich länger als Angel Romano 32 Jahre früher – und das “schwarze Wunder” schließlich in einer baufälligen Einliegerwohnung aufspürt. Der Held von einst, vom Alkohol zu gezeichnet, um selbst mit Hack zu reden. Das übernahm seine “bildhübsche Frau”, für die das letzte bisschen Magie wohl noch gereicht hatte.

Nur ein Jahr später verstarb José Leandro Andrade in einem Armenhaus, ob nun mit 55 Jahren, ein paar Jahren mehr oder ein paar weniger. Von einem sagenumwobenen Leben, wie es klischeehafter nicht hätte verlaufen können, blieb am Ende nur das übrig, was sich frei von weitläufigen Spekulationen in einem einfachen Schuhkarton verstauen ließ: drei verstaubte Medaillen aus Gold.

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