Dann zog er sich tatsächlich um. Und “The Kop” erhob sich noch einmal, wie es sich nur für ihn erhob. Die Menschen auf Liverpools leidenschaftlichster Tribüne wussten es nicht, aber sie konnten es ahnen, dass Kenny Dalglish, der Spieler Kenny Dalglish, am 1. Mai 1990 gegen Derby County ein letztes Mal ihren geliebten Rasen betreten würde.
Eine halbe Stunde später feierte die wohl herausragendste mehrerer herausragender Reds-Generationen die 18. Meisterschaft der Vereinsgeschichte. Niemand hätte sich auch nur ausdenken können, dass die 19. drei lange Jahrzehnte entfernt lag.
Eigentlich ist er Rangers-Fan
Es klingelte an der Tür. Papa Dalglish machte auf. Sean Fallon, Celtics Co-Trainer, trat ein. Kenneth Mathieson Dalglish war einmal Torwart gewesen, hatte sich aber erst als stürmender Feldspieler zu einem der verheißungsvollsten Nachwuchstalente der Region gemausert. Und nun stand der Gesandte des kommenden Europapokalsiegers in einem Wohnzimmer, das zahlreiche Fotos von dessen Erzrivalen zierten.
Kenny hatte ja versucht, bei seinem Lieblingsverein unterzukommen, doch die Rangers wollten ihn nicht. Ebenso wenig wie der FC Liverpool – der später eine zweite Chance erhalten sollte. Vielleicht hatte Fallon sich so etwas schon denken können, als er die Dalglishs in einem Hochhaus besuchte, von dem aus man direkt in den Ibrox Park blicken konnte. Das mussten Rangers-Fans sein.
Beim Europapokalsieger: Vier Jahre Lehrzeit
Die “Umschulung” sollte ihre Zeit in Anspruch nehmen. Von den “Lisbon Lions” sieht der protestantische Dalglish erst einmal wenig, als das katholische Celtic ihn im Mai 1967 als 16-Jährigen verpflichtet. Sofort wird er verliehen, ehe er sich in der zweiten Mannschaft beweisen muss. Es ist ein langer Anlauf auf dem Weg zur Stammkraft, der den Youngster vier Jahre kostet.
Am 2. Januar 1971 befindet sich Celtic-Spieler und Rangers-Fan Dalglish unter den Zuschauern, als beim (zweiten) Ibrox-Desaster 66 Menschen ums Leben kommen. Es wird nicht seine letzte Erfahrung dieser Art sein.
Kenny ist immer noch erst 20, als er sich in der Saison 1971/72 endlich in Celtics erster Mannschaft etabliert und ziemlich schnell durchstartet. Der Beginn eines regelrechten Erfolgslaufes, der für Dalglish eigentlich erst Ende der 90er als Newcastle-Trainer endet. 173 Tore schießt der Offensiv-Allrounder in 338 Spielen für die “Hoops”, die er in sechs Jahren zu vier Meisterschaften und vier Pokalsiegen führt. Im Landesmeister-Pokal scheitert Celtic 1972 und 1974 im Halbfinale, das verlorene Endspiel 1970 hatte noch ohne Dalglish stattgefunden.

Seinen Status als schottischer Fußballheld konnte sich Kenny zwar nicht bei Weltmeisterschaften erspielen, bei denen die Schotten 1978 und 1982 unter ihren Möglichkeiten blieben – zwei Siegtore gegen England Mitte der 70er machten ihn allerdings unsterblich. 102 Länderspiele und 30 Tore sind noch heute jeweils Rekord.
Eine Auftaktsaison nach Maß
1977 wird Schottland, wird Celtic zu klein. Der nächste Schritt ist unvermeidlich. Liverpool, das beste Team des Kontinents, nutzt seine zweite Chance – und Dalglish direkt seine erste, um zu beweisen, dass er “der bessere Keegan” ist. Seinen drei Wochen älteren Vorgänger und dessen neuen Klub Hamburger SV fertigt Liverpool im Europäischen Supercup ab, Dalglish schießt im fulminanten Rückspiel das letzte von insgesamt sechs Toren. Im Landesmeister-Finale, am Ende seiner ersten Saison, schießt er das einzige.
Der Fabellauf setzt sich fort. In acht Jahren als Spieler feiert “King Kenny” mit Liverpool 17 Titel, zwei weitere Europapokale zählen auch dazu. Sowie 172 Tore in 515 Partien, weil er jetzt – etwa neben Ian Rush – zurückgezogener spielt. Und zwar so gut, dass er 1983 bei der Ballon d’Or-Wahl hinter Michel Platini Zweiter wird.
Gegen Platini und Juventus Turin führt er seine Mannschaft am 29. Mai 1985 als Kapitän auf das Feld eines weiteren Landesmeister-Endspiels – das sie überhaupt nicht bestreiten will. Am Tag nach der Heysel-Katastrophe tritt Coach Joe Fagan zurück. Der erst 34-jährige Dalglish, der Zeuge einer weiteren Tragödie wurde, übernimmt als Spielertrainer.
Der Maßstab aller Spielertrainer
Bereits in seiner ersten Saison in neuer Funktion, 1985/86, gelingt es Kenny, sich als Spieler zurückzunehmen – und Liverpool zum ersten Double der Vereinsgeschichte zu führen. Wobei er es sich schon noch herausnimmt, das Tor zur Meisterschaft selbst zu erzielen. Der Maßstab aller Spielertrainer.
1987/88 spielt das international gesperrte Team um John Barnes, John Aldridge, Peter Beardsley oder Alan Hansen, das mit Rush gerade seinen großen Star verloren hatte, Fußball wie von einem anderen Stern. Ein Jahr später wird die Meisterschaft erst in letzter Sekunde und historisch bitterer Manier vergeigt, dafür aber wieder der Pokal gewonnen. 1990, Rush war inzwischen wieder da, holen die Reds sich “ihren” Titel zurück. Was Dalglish – in seiner letzten Amtshandlung als Spieler – noch einmal voll auskostet.
Aller tragischen Dinge sind drei
Auch diese Meisterfeier schien nur einen vorläufigen Höhepunkt zu symbolisieren, das überragende Team der 70er und 80er würde sicherlich auch die 90er prägen. Weil Kenny es prägte. Doch seine großen Jahre als (Spieler-)Trainer waren mitnichten die Fortsetzung eines Märchens gewesen. Aller schlechten Dinge waren drei und mit dem 15. April 1989 hatte in Liverpool eine neue Zeitrechnung begonnen.
Dalglish, der schon Ibrox und Heysel erleben musste, stand machtlos am Spielfeldrand des Hillsborough-Stadions, als schließlich 96 Liverpool-Anhänger im Rahmen des Pokal-Halbfinals gegen Nottingham Forest einen grausamen Tod fanden. Die Rolle, die er seither in der Verarbeitung der Tragödie spielt, hat ihn in Liverpool zu mehr als einer Identifikationsfigur werden lassen.

Kenny besuchte so viele Beerdigungen wie nur möglich, einmal vier an einem Tag. Vor allem er stand für den nimmermüden Kampf für eine Gerechtigkeit, zu der es erst Jahrzehnte später – und doch nie kam. Da hatte Dalglish als Trainer längst hingeschmissen, im Februar 1991 war das. Als Tabellenführer. All die Trauer, den Druck, den Schmerz, das hatte er nicht mehr ausgehalten. Mit ihm ging auch die Dominanz.
Doch es spielte keine Rolle, dass es fast drei Jahrzehnte dauerte, bis sie zurückkehrte. Denn Kenny Dalglish war immer irgendwie da geblieben. Was sich spätestens wieder zeigen wird, wenn nach der Pandemie auch die Fans zurückkehren dürfen. Nach der 18. Meisterschaft am 1. Mai 1990 wird er auch Teil der noch aufgeschobenen 19. Feier sein, wenn “The Kop” einmal mehr dem Mann zujubeln wird, der Liverpool wie kein Zweiter bewegte.
Ob als Spieler, als Trainer – oder als noch viel, viel mehr.