Kevin Keegan: EVERYBODY’S DARLING

Kevin Keegan hat sich vor allem als Kultspieler ins kollektive Gedächtnis einge(b)rannt – dabei gewann er sogar zweimal den Ballon d’Or. Über einen Allrounder, der gerne Herzensentscheidungen traf.

Die drei Jungen schauten sich noch einmal an. Mit leicht glasigen Blicken voller Nervosität und jugendlicher Unsterblichkeit. Dann rannten der 15-jährige Kevin und seine zwei Freunde los, den ganzen 50-Meilen-Lauf von Nottingham nach Doncaster. Nach dieser Grenzerfahrung glaubte Keegan, wie er später in seiner Biographie schrieb, physisch und psychisch auf jede Herausforderung des Profi-Fußballs vorbereitet gewesen zu sein.

In den 1950er und 1960er Jahren wuchs Kevin, eigentlich Joseph Kevin, in South Yorkshire auf – in erster Linie als junger Sportler. Er war ein regelrechter Alleskönner, glänzte im “Cross Country Running”, spielte Rugby, Cricket – und natürlich Fußball, mit dessen Profi-Bereich er mit 15, als er bereits als Laufbursche in den Büros einer Manufaktur arbeitete, nach einem Spiel mit der Werksmannschaft eher zufällig in Berührung kam.

Aus der vierten Liga nach Liverpool

Bei Scunthorpe United, einem der wenigen Profi-Teams der vierten Liga, machte sich Keegan als Allrounder einen Namen. Neben seinen Ballfertigkeiten, die dich im Mutterland des Fußballs alleine noch nicht weit bringen, bestach der Mittelfeldspieler durch Dynamik, Ausdauer und Aufopferungsbereitschaft. Das machte ihn beliebt – auch bei einem Talentsichter des berühmten FC Liverpool.

Nachdem der gewitzte Keegan, der sich auch wegen seines Verhandlungsgeschickes schon früh als Fußball-Unternehmer verstand, alles auf die Karte Profifußball gesetzt hatte, folgte 1971 tatsächlich der große Sprung an die Anfield Road.

Seinen raschen Durchbruch hatte der nun 20-Jährige vor allem Trainer-Ikone Bill Shankly zu verdanken, der den umtriebigen Keegan aus dem rechten Mittelfeld nahm und ihn neben Sturm-Hüne John Toshack in den Angriff stellte. Wo seine Torgefahr – trotz etwa 1,70 Meter Körpergröße auch mit dem Kopf – bestens zur Geltung kam. Keegan und Toshack entwickelten auf dem Platz ein blindes Verständnis füreinander, obwohl sie privat kaum etwas miteinander zu tun hatten.

Zahme “Three Lions”

Bei seinem Debüt in Anfield traf Keegan bereits nach zwölf Minuten, nur ein Jahr später war er englischer Nationalspieler. Er konnte dennoch nicht mehr entscheidend einwirken, als die “Three Lions” die WM 1974 in Deutschland verpassten – der Beginn einer tristen Epoche. Auch die EM-Endrunde 1976 und die WM 1978 fanden ohne England statt.

Gegengleich lief es für Keegan an der Seite von Toshack und Co. auf Vereinsebene: 1973, 1976 und 1977 wurde Liverpool Meister, 1973 und 1976 holten die Reds zudem den UEFA-Cup. Und 1977, wie 1973 im Finale gegen Borussia Mönchengladbach, auch noch den größten Pott: den Europapokal der Landesmeister.

Batman & Kevin: Toshack und Keegan (l.) in fragwürdigen Kostümen. – Bild: walesonline.co.uk

Nach den großen Jahren von Johan Cruyff, Franz Beckenbauer und Co. avancierte Final-Spezialist Keegan Ende der 70er zu einem der Stars des europäischen Spitzenfußballs. Auf dem Höhepunkt seiner Erfolge mit Liverpool – wohl auch, weil er dort nicht so gut verdiente – suchte der Publikumsliebling mit der notorischen “Perm”-Frisur allerdings nach “einer neuen Herausforderung”.

Doch die italienischen Topklubs umgarnten ihn nicht, weil er von Positionsspiel nicht viel verstehen wollte. Und den spanischen Topklubs, die zu dieser Zeit in den Genuss von Cruyff oder Günter Netzer kamen, spielte er einfach nicht spektakulär genug.

Peter Krohn macht die Millionen locker

So zog es Keegan im Sommer 1977 – als ersten ausländischen Superstar – in die Bundesliga. Zum Hamburger SV, der seit Jahren nicht mehr um die Meisterschaft gespielt hatte. Doch dem umsatzstarken Manager Peter Krohn war ein Coup gelungen, der mit gut zwei Millionen Mark den britischen und den deutschen Transferrekord brach.

Der große Coup drohte allerdings in die Hose zu gehen, da ausgerechnet der umgängliche Keegan mit neidischen Mitspielern und dem weltmännischen Trainer Rudi Gutendorf fremdelte – in seiner ersten Saison in Hamburg wurden die Rothosen gerade einmal Zehnter.

Im Winter 1977/78 war Keegan beim HSV am Tiefpunkt angekommen. Im europäischen Supercup – in der Vorsaison hatte Hamburg den Europapokal der Pokalsieger gewonnen – kamen sie bei Keegans Ex-Klub Liverpool um seinen Nachfolger Kenny Dalglish mit 0:6 unter die Räder. In einem Freundschaftsspiel gegen Lübeck brannten dem wiederholt gefoulten Keegan dann die Sicherungen durch: Er verpasste seinem Gegenspieler einen Schlag und lief umgehend – wohl wissend, die Rote Karte zu sehen – mit versteinerter Miene vom Platz.

Doch anstatt aufzugeben konzentrierte sich Kevin nach dieser Aktion darauf, besser deutsch zu lernen. Mit der Ankunft des umtriebigen Managers Günter Netzer und der von Trainer Branko Zebec war der Bock dann endlich umgestoßen. Als sie ihn besser verstanden, lernten auch die Hamburger den hart trainierenden und allürenfreien Star richtig kennen und lieben. “Kevin war einmalig. Hätte es ihn nicht gegeben, man hätte ihn erfinden müssen”, schwärmte sein neuer Toshack, der Westfale Horst Hrubesch.

Ballon d’Or und Chart-Erfolg

Dompteur Zebec, dieser jugoslawische Schleifer, brachte in Hamburg die entscheidende Disziplin mit ein, ähnlich wie Shankly in Liverpool gestand er Keegan aber gewisse Freiheiten zu. Ein harmonierender HSV wurde nach 19 Jahren Abstinenz wieder Deutscher Meister – und Keegan, der mit 17 Saisontoren der Garant gewesen war, gewann 1978 und 1979 sogar den Ballon d’Or.

Nicht nur in der Mannschaft, sondern vor allem bei den Fans mauserte sich “Mighty Mouse”, wie Keegan nach einer Zeichentrickfigur gerufen wurde, wie schon in England zu Everybody’s Darling. Einige Hamburger schnitten sich sogar seine Frisur und der Vorname Kevin erfreute sich deutschlandweit – ein Jahr vor der Geburt Macaulay Culkins – plötzlich großer Popularität. Auf dem Höhepunkt seiner Zeit in Deutschland entwickelte sich der Angreifer auch zum Chartstürmer, “Head over heels in love” wurde tatsächlich ein Hit.

Haarige Angelegenheit: Keegan (r.) mit Paul Breitner. – Bild: kicker.de

Angebote von Juventus, Real oder anderen Schwergewichten schlug Keegan nun aus, einen zweiten Henkelpott wollte er unbedingt mit dem HSV gewinnen. Sein drittes Jahr in Deutschland sollte allerdings schon sein letztes werden, Zebecs extremes Training zehrte selbst am nimmermüden Dauerläufer. Im Februar 1980 gab Keegan bekannt, nach der Saison auch wegen ein bisschen Heimweh nach England zurückzukehren.

Ein triumphaler Abschied blieb der “Mighty Mouse” versagt. Auf der Zielgeraden verspielte Hamburg noch die Meisterschaft, im Landesmeister-Finale gegen ein destruktives Nottingham Forest unterlag man knapp. Den Henkelpott holte der HSV dann drei Jahre später.

Nachdem Kapitän Keegan mit England bei der EM 1980 daraufhin schon in der Vorrunde ausgeschieden war, lief er für den FC Southampton auf. Erneut kein Spitzenklub – doch Liverpool, das eine Rückkaufoption hatte, wollte ihn nicht mehr. Trotzdem blühte Keegan nochmals auf: 1981/82 spielte er mit 31 Jahren die vielleicht beste Saison seiner Karriere (26 Saisontore), die miserable Defensive der Saints machte den Gewinn der Meisterschaft jedoch unmöglich.

Sein schönstes Tor zählt nicht

In dieser Saison erzielte Keegan per Seitfallzieher vermeintlich auch das schönste Tor seiner Karriere. “Er hat mir nie verziehen”, schmunzelte David Armstrong Jahre später, wegen dessen (passiver) Abseitsstellung der Treffer damals nicht anerkannt worden war.

Im Sommer 1982 gelang es Keegan, der die Vorrunde verletzt verpasst hatte, dann doch noch, bei einer WM zu spielen. In der entscheidenden Zwischenrundenpartie gegen Gastgeber Spanien wurde er eingewechselt – und vergab eine Großchance. Und damit Englands Hoffnungen auf das Halbfinale.

Anschließend entschloss sich Kevin für einen weiteren überraschenden Wechsel – in die zweite Liga. Keegan stürmte fortan für Newcastle United, den Lieblingsklub seines verstorbenen Vaters. Herzensangelegenheit.

Zwar war das der Beginn ihres allmählichen Karriereausklangs, doch die “Mighty Mouse” schoss auch für die Magpies Tor um Tor. Nirgends war Keegan so beliebt wie an der Tyneside, wo sie ihm im Rahmen seines Abschiedsspiels 1984 sogar einen spektakulären Abgang mit einem Helikopter bescherten. “Hier möchte ich für immer bleiben”, schwärmte er, der beinahe auch Newcastle zur Meisterschaft führte – doch das war bereits als Trainer, der er, wie er mehrfach betont hatte, niemals werden wollte.

1992 hatte er, der in den sieben Jahren seit seinem Karriereende als Spieler nur zweimal ein Stadion besuchte, die Magpies also übernommen, um den Abstieg in die dritte Liga zu verhindern. Er tat viel mehr als das: Aus eigener Kasse die maroden Trainingsplätze renovieren, Nachwuchsspielern eine Chance geben – und Trainingsprügeleien zulassen, um das Feuer im Team zu entfachen. Schon 1993 stieg Newcastle in die Premier League auf. Und Keegan war fortan “King Kev”.

Zwölf Punkte Vorsprung

1995/96 verspielte sein großartig anzuschauendes Team, das mit Manchester United und Liverpool mithalten konnte, doch recht tragisch einen souveränen Zwölf-Punkte-Vorsprung. Meister wurde Newcastle, das änderte sich auch durch Keegan nicht, bis heute letztmals 1927. Mit Rekordtransfer Alan Shearer spielten die Tynesider auch im Folgejahr eine Rolle, als ein ausgelaugter Keegan plötzlich verkündete, in eigenem Sinne und im Sinne der Mannschaft zurückzutreten. Wie 20 Jahre zuvor ersetzte ihn Kenny Dalglish.

Newcastle war verbrannte Erde, Streitigkeiten in den Führungsetagen plagten den Klub seit Jahren. Daher hatte sich “King Kev” nur eine Ausrede zurechtgelegt. Wenig später trainierte er weiter, Fulham oder Manchester City. 1999 ließ er sich sogar dazu überreden, englischer Nationaltrainer zu werden – ein Jahr später wurde er kurz nach dem frühzeitigen EM-Aus schon wieder abgesägt. Kein Coach der “Three Lions” hatte je eine schlechtere Siegquote aufweisen können, und doch wurde seine Entlassung von Empörung begleitet. Kaum ein Nationaltrainer hatte sich je solcher Beliebtheit erfreut.

Trotz des Sieges gegen Deutschland scheiterte England bei der EM 2000 schon in der Vorrunde. – Bild: englandmemories.com

Eigentlich hatte Keegan 2008 schon alles hinter sich gelassen, als er an Newcastles Seitenlinie ein Comeback gab. Voller Begeisterung wurde die inzwischen ergraute, Perm-befreite “Mighty Mouse” auch ein drittes Mal an der Tyneside empfangen. Allerdings nur für wenige Monate, da sich Everybody’s Darling endgültig mit seinem absoluten Gegenpart zerstritt – dem verhassten damaligen Besitzer der Magpies, Mike Ashley.

Keegan hat ihnen eine weitere Rückkehr versprochen – allerdings erst, wenn Ashley endlich weg ist. Also jetzt. Doch auch der Liebling könnte gemerkt haben, dass viele Sympathiepunkte in Newcastle neuerdings nicht mehr zu gewinnen sind.

Facebook
Twitter
Instagram