Im Westen, so dachte sich der Ostdeutsche Lutz Eigendorf, könnte er das Leben führen, das er führen wollte. Stattdessen fand er dort den Tod. Ließ die Stasi ihn heimtückisch ermorden?
Manndecker, das waren andere. Die im Schatten blieben. Die die Drecksarbeit verrichteten. Lutz Eigendorf war mehr Künstler, ein Freigeist. Prototyp Libero, der manchmal geradezu über den Platz zu schweben schien. In der DDR nannten sie ihn schon mit Anfang 20 den “Beckenbauer des Ostens”. Doch der wollte lieber in den Westen.
Einen traf das besonders. Es war nicht irgendeine Flucht. Eigendorf spielte beim Stasi-Klub BFC Dynamo und galt als Augapfel des fußballverrückten Stasi-Chefs Erich Mielke. Als sich sein ausgemachter Lieblingsspieler im Rahmen eines Freundschaftsspiels in Kaiserslautern 1979 in die BRD absetzte, nahm Mielke das persönlich. Und hetzte bis zu 50 seiner ganz persönlichen Manndecker auf Eigendorf.
Liebesagenten und Mordideen
Nach einem Jahr FIFA-Sperre, das er als Jugendtrainer verbrachte, fasste der lebensfrohe junge Mann beim FCK zunächst Fuß. Doch er konnte keinen Fuß vor den anderen setzen, ohne dass die Stasi und ihre Spitzel das nicht genau beobachtet und dokumentiert hätten. Während er sich seinen Traum von der Bundesliga endlich erfüllte, wurde der im Osten weitgehend totgeschwiegene Star-Flüchtling für Mielke im Westen zum Großprojekt.

Sie versuchen, Eigendorf zurück in die DDR zu locken – doch weil er darauf nicht eingeht, sollen andere Mittel her. Zunächst wird auf seine Frau, die samt Kind noch im Osten geblieben war, ein sogenannter “Romeo” angesetzt. Sie verliebt sich neu, ganz nach Plan. Ehe sie Jahre später von den Hintergründen dieser Beziehung erfahren wird, ist daraus längst ein weiteres Kind entstanden.
Parallel füllt sich Eigendorfs Stasi-Akte. Mit Auszügen über den perfekten Giftmord, mit Stichworten wie “verblitzen”. Auch wenn das erst später ans Licht kommt. Der unfreiwillige Fußballexport, der durch seinen ausschweifenden Lebensstil samt Leistungsabfall inzwischen aneckt und 1982 nach Braunschweig wechselt, wird für die alte Heimat ob seiner öffentlichen Auftritte mehr und mehr zur Bedrohung.
Ein fatales Interview?
Von Politik bis Fußball lässt Eigendorf unverfroren kein gutes Haar an der DDR, schon gar nicht in einem provokant vor der Berliner Mauer geführten ARD-Interview Anfang 1983. Womit er sich rückblickend sein eigenes Grab geschaufelt haben könnte. Hier im Westen sei alles besser, aber das habe er ja schon immer gewusst.
Wenige Wochen darauf, am späten Abend des 5. März 1983, rast der Familienvater auf der verregneten Braunschweiger Forststraße mit einer Menge Alkohol im Blut gegen einen Baum und erliegt schließlich seinen Verletzungen. Lutz Eigendorf wird nur 26 Jahre alt.
Aber war es wirklich ein Unfall? Oder war es geplanter Mord? Wurde Eigendorf, wie in seiner Akte neben den Begriffen “Narkosemittel” oder “Unfallstatistiken” vermerkt, tatsächlich “verblitzt”? In jener scharfen Kurve, in der er die Kontrolle über seinen Alfa Romeo verlor, plötzlich von einem grellen Scheinwerferlicht geblendet? Seine schnelle Fahrweise war den Schattenmännern bekannt, seine üblichen Fahrstrecken, wie die von der Kneipe “Cockpit” nach Hause, auch. Doch auf einer solchen Strecke geschah der Unfall nicht.
Der Historiker Andreas Holy, der sich intensiv mit dem Fall Eigendorf beschäftigt hat, erzählt in einem “11 Freunde”-Interview von einer weiteren makaberen Theorie: Zu Eigendorfs Trinkverhalten gab es unterschiedliche Aussagen – nicht aber an diesem Abend, an dem er insgesamt höchstens viermal 0,2 Liter Bier zu sich genommen haben soll. Sein später gemessener Blutalkoholwert lag allerdings bei 2,2 Promille – und hatte vor dem Blutverlust und diversen Infusionen ursprünglich noch deutlich höher gewesen sein müssen.
Holy glaubt daher, dass Eigendorf auf dem Heimweg zunächst von Stasi-Agenten abgefangen und entführt wurde, die ihm – etwa in Form von Spritzen – eine große Menge Alkohol eingeflößt und ihn anschließend gejagt haben. Was auch seine abgeänderte Route erklären würde. Ob er zusätzlich verblitzt wurde, ließ und lässt sich wohl nicht mehr beweisen.

Den Auftrag gab es wohl, eine Obduktion nicht
Denn wirklich beweisen lässt sich im Fall Eigendorf mangels veröffentlichter Informationen irgendwie nichts. Auch wenn bei “IM Klaus Schlosser”, den Eigendorf aus seiner Berliner Zeit als Türsteher Karl-Heinz Felgner kannte, ein Zahlungseingang für die “Durchführung eines Auftrags” dokumentiert ist. Felgner gab später sogar zu, den Mordauftrag erhalten, diesen aber nicht ausgeführt zu haben.
Auch die Ermittlungen in der BRD sprachen Bände. Alkohol am Steuer, damit gab man sich schnell zufrieden. Obduziert wurde Eigendorf tatsächlich nie. Wollte sich der Westen in Zeiten des Kalten Krieges nicht eingestehen, dass der Osten auf seinem Boden ein solches Ding abziehen konnte? War diese Affäre politisch zu brisant, um den Fall wirklich aufklären zu wollen?
Als etwa Heinz Hess, ein ehemaliger Führungsoffizier der Stasi, von dem Felgner seinen Auftrag erhalten hatte, später einmal vor Gericht geladen wurde, erschien dieser einfach nicht – und damit war gut. Das Versanden der neu aufgerollten Causa wurde zumindest festgehalten, inzwischen ist auch Hess längst tot. Wie die meisten der Beteiligten, die wussten, aber schwiegen.
Unfall – oder doch Mord? Der Tod des Lutz Eigendorf wird wahrscheinlich auf ewig ein Rätsel bleiben.