Milan 4, Barcelona 0 (1994): ZEHN ERKENNTNISSE

Zum 75. Geburtstag des Fabio Capello: Wie eindrucksvoll sein Milan im Champions-League-Finale 1994 die Ära von Johan Cruyffs “Dream Team” beendete.

Der FC Barcelona als Maß aller Dinge des europäischen Fußballs. Unter Trainer Pep Guardiola über Jahre Normalität, zuvor – zumindest über einen längeren Zeitraum – hatte es das eigentlich erst einmal gegeben. Mit dem Spieler Guardiola, unter Trainer Johan Cruyff.

Der prägende Niederländer formte Anfang der 1990er Jahre sein sogenanntes “Dream Team”, das 1992 den ersten Henkelpott nach Katalonien holte. Nach vier Meisterschaften in Serie – außerdem hatte zwischenzeitlich Wunderstürmer Romario die Blaugrana verstärkt (zumindest auf dem Papier) – wartete im Champions-League-Finale 1994 der absolute Höhepunkt auf eine Dynastie, die gegen Fabio Capellos AC Mailand großer Favorit war.

AC Mailand: Rossi – Tassotti, Galli, Maldini (83. Nava), Panucci – Boban, Albertini, Desailly, Donadoni – Savicevic, Massaro.

FC Barcelona: Zubizarreta – Ferrer, Koeman, Nadal, Sergi (71. Estebaranz) – Amor, Guardiola, Bakero – Stoichkov, Romario, Begiristain (51. Eusebio).

Tore: 1:0 Massaro (22.), 2:0 Massaro (45.+3), 3:0 Savicevic (47.), 4:0 Desailly (58.).

1. Krieg der Philosophien

“König Johan” wollte einfach nicht wahrhaben, was dieser unsägliche Capello aus einer AC Mailand gemacht hatte, die unter Arrigo Sacchi noch für einen solch offensiven Fußball stand.

“Unser Spiel basiert auf Angriff, ihres auf Verteidigung”, spottete Cruyff – auch darüber, dass Milans Königstransfer, während man sich selbst für 30-Tore-Mann-Romario entschieden hatte, mit Marcel Desailly ein Defensivspieler war.

Für eine Mannschaft, die mit gerade einmal 36 Treffern in 34 Liga-Spielen (!) italienischer Meister geworden war, hatte der ideologische Hüter des attraktiven Fußballs nur wenig Wertschätzung übrig. Was in der Spielvorbereitung womöglich ein kleines Problem darstellte.

Der Mauer-Trainer und sein defensiver Königstransfer: Desailly traf im Finale zum 4:0, Romario traf nicht. – Bild: uefa.com/uefachampionsleague

2. Eine andere Ansprache

In zwei Jahren kann sich vieles ändern, im Fußball sowieso. Durch berühmte letzte Worte in seinen Final-Ansprachen hätte Cruyff, dem man wie so vielen Amsterdamern eine gewisse Arroganz nachsagte, dies kaum besser dokumentieren können.

1992 – hungrig, ambitioniert, konzentriert – hatten diese noch “Geht einfach raus und habt Spaß” gelautet. Zwei Jahre später – als bestes Team Europas, für das es nur noch um die Kirsche auf der Sahnetorte ging – hieß es, wohl auch bewusst abschätzig: “Ihr seid besser als sie. Ihr werdet gewinnen.”

Eine Herangehensweise, die in Athen dann auch Cruyffs Spielern anzumerken war. Mit bekanntem Ausgang.

3. Kein Laudrup, keine Angst

Das “Dream Team”, ob 1.0 oder 2.0, hatte sie alle vorgeführt. Dynamo Kiew, Real Madrid oder später des Kalenderjahres Sir Alex Fergusons Manchester United – rückblickend das letzte große Hurra dieses FC Barcelona.

Und doch wich Capello etwa eine Stunde vor Anpfiff jegliche Angst aus seinen Gliedern. Denn die hatte er trotz einer Stange von herausragenden Fußballern auf der Gegenseite nur vor einem gehabt: Vor Michael Laudrup, der sich mit Cruyff überworfen hatte und der nach der Saison zu Real Madrid wechseln sollte.

Wie entscheidend es für Capellos Plan war, dass der Däne nur zuschauen durfte:

4. Cruyff missachtet sein Credo

Neue Spieler erschraken beinahe, wenn Cruyff ihnen aufmalte, wie viele offensiv ausgerichtete Akteure er aufbieten wollte. Weil nahezu jede Mannschaft damals mit zwei Stürmern spielte, genügten für eine Überzahl im Aufbau drei Verteidiger – so lautete Cruyffs Credo, das er am 18. Mai 1994 missachtete.

Gegen das Mailänder 4-4-2 bot er ein keineswegs untypisches 4-3-3 auf, womit er der vielleicht überraschenden gegnerischen Ausrichtung allerdings genau in die Karten spielte.

Durch einrückende Außen und mindestens einen tief mitarbeitenden Stürmer hatte Mailand – nicht Barcelona – die zentrale Überzahl. – Bild: footballbh.net

Milans Außenbahnspieler rückten gegen den Ball ein und einer der beiden Stürmer zurück, sodass die AC Barcas im Aufbau essenzielle Schlüsselspieler Guardiola und/oder Ronald Koeman konsequent pressen konnte, während sie im restlichen Mittelfeld – Milan verschob viel mehr als Barca – immer noch eine Überzahl hatte (die sich Cruyff selbst ausgerechnet haben dürfte).

Somit mussten Barcas “Achter” Guillermo Amor und José Mari Bakero im Aufbau tiefer kommen, was dafür sorgte – im Zwischenraum (zer-)störte der dynamische Desailly zudem herausragend – dass zwischen Barcelonas Angreifern und dem Rest der Mannschaft kaum Verbindung bestand. Diese Verbindung hätte Balltreiber Laudrup herstellen können.

Und nachdem fast jeder lange und jeder zweite Ball bei den Rossoneri gelandet war, nutzten sie die großen Räume hinter Barcas Außenverteidigern der Viererkette schulbuchmäßig aus. Die ersten beiden Tore fielen nach Gegenstößen über außen; das dritte, als der durch das aus dem Spiel nehmen Koemans und Guardiolas zum Aufbau genötigte Miguel Angel Nadal die Kugel an Dejan Savicevic verlor.

5. Der beste Kader aller Zeiten?

Milan war der Außenseiter. Zum einen ganz generell, zum anderen, weil mit Franco Baresi und Alessandro Costacurta die Abwehrzentrale nicht zur Verfügung stand. Durch seine taktische Herangehensweise machte Capello aus der Not eine Tugend, allerdings darf auch nicht vergessen werden, über welch außergewöhnlichen Kader er verfügte.

Vor allem das Team, das 1992/93 den zweiten dreier aufeinanderfolgenden Scudetti einfuhr und im CL-Finale gegen Marseille unterlag, gilt in der qualitativen Kadertiefe als einer der besten Kader aller Zeiten:

Rossi – Maldini, Baresi, Costacurta, Tassotti, Panucci, Galli – Rijkaard, Gullit, Donadoni, Boban, Albertini, Savicevic, Evani, Lentini – van Basten, Papin, Simone, Serena, Massaro.

Man mag sich dieses Milan kaum vorstellen, wenn das die Ausländerregel aufhebende Bosman-Urteil schon zwei Jahre früher in Kraft getreten wäre. Aber dann hätte im Finale ’94 wohl auch Laudrup gespielt.

AC Mailand, 1992/93. Wow. – Bild: twitter.com/90sfootball

6. Modern gegen moderner

Wenige Teams – selbst wenn Barca 1994 vielleicht über dem Zenit war und Cruyff falsche Entscheidungen traf – waren ihrer Zeit je so voraus wie das “Dream Team”, der rechtmäßige Vorgänger von Guardiolas großer Mannschaft.

Im Endspiel von Athen trafen die balldominanten und -fertigten Katalanen jedoch auf einen Gegner, der vor allem aus heutiger Sicht sogar noch moderner spielte. Was Capellos Rossoneri in puncto Kompaktheit, Pressing, Gegenpressing, Raummanipulation und Umschaltspiel kollektiv an den Tag legten, wirkt teilweise noch immer zeitgemäß.

Was etwa 20 Jahre später als Gegenmittel für den Guardiola-inspirierten Fußball gefunden wurde, klappte in den 90ern schon gegen Cruyff. Was nicht überrascht, weil in der taktischen Entwicklung des Fußballs nahezu alles ziemlich zyklisch abläuft.

7. Die Phase vor der Pause

Einmal mehr das Segment: “Es hätte vielleicht auch anders kommen können.” Gegen Ende der ersten Hälfte war Romario lediglich ein glückliches Abfälschen vom 1:1 entfernt gewesen, ehe Daniele Massaro in der dritten Minute einer in dieser Länge schwer nachvollziehbaren Nachspielzeit auf 2:0 stellte.

Mit etwas mehr Glück hätte Barcelona zu Beginn des zweiten Abschnitts also bei Gleichstand im Spiel angekommen sein können. Stattdessen fiel in der 47. Minute das geniale 3:0 durch Savicevic.

8. Il Genio

Pressing, Gegenpressing, Übersicht, Intuition, Ballkontrolle, Technik, Passspiel, Dribbling, …

Was Dejan Savicevic in diesem Finale auf den Rasen zauberte (Desailly überragte gegen den Ball), war traumhaft anzusehen. In den vermeintlich simplen Grundlagen des Fußballs glänzend ausgebildete Katalanen – darauf ausgelegt, vor allem im Kollektiv zu glänzen – wurden von einem Einzelkönner der Sonderklasse wieder und wieder deklassiert.

Mehr Ehrgeiz und Professionalität über dieses Endspiel hinaus – auch wenn sich einige Leute so etwas oft wünschen – hätten diesen Spieler, der bis heute “Il Genio” gerufen wird, wahrscheinlich nicht mehr zu dem Entertainer gemacht, als der er etwa 1994 in Athen brillierte. Mit dem vielleicht frechsten Tor der Finalgeschichte.

9. Hat Cruyff zu van Gaal geschielt?

Auch wenn sich Cruyff und sein ideologischer Widersacher Louis van Gaal (zwar nur in gewissen Aspekten, darin aber richtig) mit ihren besten Teams nicht begegneten, gab es durch die CL-Endspiele 1994 und 1995 einen gewissen Vergleich.

Während Cruyff haushoch verlor, schlug van Gaals Ajax Capellos Rossoneri eine Saison später gleich dreimal. Was nicht unbedingt zu heißen hat, dass es wesentlich besser als jener FC Barcelona war, sehr wohl aber, dass Cruyff sich im Angesicht seines aufstrebenden Rivalen vielleicht besser treu geblieben wäre.

Seine Orientierung – ob Absicht oder nicht – an van Gaals Element des ziemlich strikten Einhaltens der offensiven Positionen brach Cruyff (zusätzlich zu Punkt 4) das Genick. Es passte nicht in sein Spiel, dass seine höchstens die Seite wechselnden Flügelspieler in ihrem Raum verharrten und somit weitgehend isoliert werden konnten (während Romario gegen zwei wechselweise manndeckende Innenverteidiger stand).

Kaum Rochaden, kaum überladene Räume, kaum totaler Fußball.

Wie man es seinem Schüler Guardiola später oft vorwerfen sollte, hat sich Mentor Cruyff wohl ein ordentliches Stück weit vercoacht.

10. Das Ende einer Ära

Das CL-Finale 1994 hätte der Höhepunkt des Cruyff’schen “Dream Teams” werden sollen, stattdessen hatte es sich durch eine auch in dieser Deutlichkeit angemessene Niederlage ausgeträumt.

Laudrup ging anschließend selbst, während die WM-Stars Romario und Hristo Stoichkov nach ihren Erfolgen im Sommer nicht mehr in Bestform zurückkehrten. Ziemlich schnell fiel ein historisches Team in sich zusammen, während auch ein Trainergenie mit seinem Latein allmählich am Ende war.

Johan Cruyff, der sich vor der höchsten Pleite in der Finalgeschichte noch unbesiegbar gefühlt hatte, sollte danach keinen einzigen weiteren Titel gewinnen. Seine große Trainerkarriere endete 1996.

Für Fabio Capello, der durch diesen internationalen Triumph endgültig aus Sacchis Schatten heraustreten konnte, war das 4:0 hingegen das persönliche Meisterwerk. Ein erstaunlich modernes Meisterwerk. Ein offensives zudem.

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