Niederlande 2, Tschechien 3 (2004): ZEHN ERKENNTNISSE

Womöglich war es das beste Spiel bei Europameisterschaften überhaupt: Das auch taktisch interessante Vorrunden-Spektakel zwischen Niederlande und Tschechien bei der EM 2004 in der Analyse.

Obwohl Oranje in Aveiro, im Norden Portugals, bereits ein wenig unter Druck stand, gab es ohne Zweifel zahlreiche tolle EM-Partien mit weitaus größerer Bedeutung. Zumal beide Teams, die an diesem zweiten Gruppenspiel beteiligt waren, die K.-o.-Phase erreichten (und schließlich im Halbfinale die Segel streichen mussten).

Stetes Tempo, individuelle wie kollektive Qualität, Ausgewogenheit und gefährliche Szenen en masse verleihen Niederlande 2, Tschechien 3 – zumindest in meinen Augen – aber auch noch aus heutiger Sicht einen besonderen Stellenwert in der Geschichte des Turnierfußballs.

HIER ist das Spiel in voller Länge verlinkt.

Niederlande: Van der Sar – Stam, Cocu, Bouma – Heitinga, Seedorf (86. van der Vaart), Davids, van Bronckhorst – van der Meyde (79. Reiziger), van Nistelrooy, Robben (59. Bosvelt).

Tschechien: Cech – Grygera (25. Smicer), Jiranek, Ujfalusi, Jankulovski – Galasek (62. Heinz) – Poborsky, Rosicky, Nedved – Baros, Koller (75. Rozehnal).

Tore: 1:0 Bouma (4.), 2:0 van Nistelrooy (19.), 2:1 Koller (23.), 2:2 Baros (70.), 2:3 Smicer (88.).

Platzverweis: Heitinga (75. Gelb-Rot).

1. Was für ein Start?!

Die Elftal konnte das Spiel zunächst diktieren und sogar mit 2:0 in Führung gehen, weil sie den besseren Start erwischt hatte. Doch schon vor Wilfred Boumas platziertem Kopfballtor in der 4. Minute hätten auf der Gegenseite sowohl Jan Koller als auch Marek Jankulovski für Tschechien treffen können – was sicherlich für einen abweichenden Spielverlauf gesorgt hätte.

In jedem Fall versprachen die ersten vier Minuten nichts, was die restlichen 86 nicht halten konnten.

2. Allein gegen alle

Tschechiens Trainer Karel Brückner forcierte die Offensive – und das nicht erst, als sein Team mit 0:2 hinten lag. Die Elf um Ballon-d’Or-Gewinner Pavel Nedved begann in einer 4-1-3-2-Grundformation, wobei Tomas Galasek die nur bedingt dankbare Aufgabe zukam, im Stile von Claude Makelele als alleiniger Gegenpol sämtliche Löcher zu stopfen.

Das machte der spätere Nürnberger auch eigentlich ganz gut, zumindest 25 Minuten lang. Aber dazu später mehr.

3. Robbenfang

20 Jahr’, (relativ) volles Haar: Kurz vor seinem Wechsel zum FC Chelsea stellte sich der junge Arjen Robben bei der EM 2004 mal so richtig vor. Vorwiegend noch auf dem linken Flügel eingesetzt war Robben gefährlichster Mann auf dem Platz.

Tschechien bekam die künftige Bayern-Legende kaum in den Griff, die beide holländischen Tore vorbereitete. Erst Trainer Dick Advocaat konnte den dynamischen Himmelsstürmer einfangen, indem er Robben bereits nach einer knappen Stunde – beim Stand von 2:1 – für den defensiveren Paul Bosvelt vom Feld nahm. Was sich Advocaat ob der Niederlage noch eine Weile anhören musste und zu den im Nachhinein schlechtesten Wechseln zählt, an die ich mich erinnern kann.

4. Die zweite Phase

Schon mehrere Turniere bedeuteten die Einführung abgewandelter Regeln, was manchmal für größere Verwirrung sorgte. Ein vortreffliches Beispiel war das 2:0 durch den nur langsam zurücktrottenden Ruud van Nistelrooy, der beim Pass zur Vorlage seines Tores noch meterweit im Abseits stand.

Die sogenannte “Second Phase”-Regelung des passiven Abseits wurde durch diesen Treffer vielleicht mehr strapaziert als jemals danach, da diese Variante – wenn absichtlich praktiziert – in den meisten Fällen wohl nicht effizient genug gewesen wäre.

Vier Jahre später gelang es van Nistelrooy übrigens erneut, für ein diskutiertes “Abseits-Tor” zu sorgen, das regeltechnisch völlig korrekt war.

Davids steckt für Robben durch, der für den zu diesem Zeitpunkt noch klar im Abseits stehenden van Nistelrooy in der nächsten Aktion nur noch querlegen muss (als dieser dann hinter ihm steht). – Bild: youtube.com/ceskarepre

5. Brückners Feinschliff

Wenn Julian Nagelsmann und Co. mal wieder mit Zahlenfolgen oder sonstigen neumodischen Bezeichnungen um sich werfen und Fußballfreunde des älteren Schlags schon gar nicht mehr hinhören wollen, lautet das Thema oft: “In-Game-Coaching”. Heute auf Spitzenniveau unabdingbar, auch schon vor 18 Jahren ein großes Thema.

Tschechiens Trainer Brückner stellte früh um – und tat das nicht nur einmal: Bereits kurz nach dem 1:2-Anschluss (23.) – der Wechsel war schon beim Stand von 0:2 vorbereitet worden – brachte er mit Smicer (für Rechtsverteidiger Grygera) einen zweiten Sechser, woraus ein 3-2-3-2 entstand. Was anschließend noch mehrmals leicht verschoben und personell abgewandelt wurde (dazu später mehr), ehe weitere Angreifer, von denen manche ungewohnt defensive Positionen übernehmen mussten (Poborsky als Rechtsverteidiger), in der Schlussphase wieder ein extrem offensives 4-1-3-2 bildeten. Mit Erfolg.

6. Das Glück des Tüchtigen

Eine Rubrik, die in diesem Format selten fehlt: Wer am Ende gewinnt, hatte zuvor fast immer auch ein bisschen Glück.

Den Tschechen kam bei ihrer Aufholjagd im Sommer 2004 entgegen, dass ein elfmeterreifes Vergehen von Ujfalusi an van Nistelrooy beim Stand von 2:1 nicht geahndet wurde, Davids nur den Pfosten traf und Heitinga zu Beginn der Schlussphase (2:2) eine zu harte Gelb-Rote Karte sah.

7. Hach, Fernschüsse

Davids an den Pfosten, Nedved an die Latte, und und und … der heutige Fußball ist dem damaligen teilweise weit voraus, jedoch nicht in allen ästhetischen Belangen.

Ich persönlich wünsche mir wieder mehr Schüsse, die zwar durch den Expected-Goals-Effizienz-Test fallen würden, die dafür aber (wenigstens manchmal) traumhaft in den Winkel rauschen. Aluminium wäre auch ok.

8. Totaler als total

Womöglich standen auf tschechischer Seite, zumindest in diesem Spiel, die besseren Fußballer auf dem Rasen. Während sich die Rochaden bei Oranje in Grenzen hielten und spielerische Überlegenheit eher von individueller Klasse rührte, wirkten die Tschechen variabler und durch fließende Wechsel dem berühmten “totalen Fußball” näher.

Am meisten wurde dies durch die Flexibilität der tschechischen Spieler untermauert, allen voran vom überragenden Tomas Rosicky: Der Dortmunder spielte erst als Zehner im 4-1-3-2, dann als balltreibender Sechser im 3-2-3-2, dann als absichernder Sechser im 3-2-3-2 und schließlich (in der vorigen Galasek-Rolle) als alleiniger Gegenpol im ursprünglichen 4-1-3-2. Alles innerhalb von 90 Minuten. Und alles sehr, sehr gut.

Nedved und Rosicky: ein geniales Mittelfeld-Duo. Vor allem der Dortmunder überragte gegen Oranje in taktisch extrem flexibler Rolle. – Bild: footballreporting.com

9. Zielspieler Koller

Wenn die Feingeister wie Nedved oder Rosicky entweder keine Lust oder keine Lösungen hatten, verfolgte Tschechien einen Plan, der die wenigsten überraschen durfte: Sie spielten 2,02-Meter-Hüne Koller hoch an. Was wunderbar funktionierte, weil die Sturmkante ein wesentlich besserer Fußballer war, als sich das vielen vielleicht eingeprägt hat – und weil Koller mit dem wuseligen, spielstarken Baros den idealen Angriffspartner (für seine Ablagen) hatte.

10. Das Turnier des Milan Baros

Es war nun nicht ganz so wie Toto Schillaci bei der WM 1990, aber Milan Baros’ Karrierezenit lässt sich doch relativ leicht feststellen. Der Torschützenkönig der EM 2004 wurde nicht nur ebenjener, sondern bestach in Portugal auch als hervorragender Fußballer – was Selbstbewusstsein doch ausmachen kann.

Wie Baros Bälle annahm, festmachte und verarbeitete, um dann auch etwa Koller als Zuspieler zu dienen, während er selbst permanent Dynamik und Gefahr erzeugte, war schon sehr beeindruckend. Und in dieser Form für ihn ein Ausnahmefall. Ein Jahr später gewann er mit Liverpool die Champions League.

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