Paul Gascoigne: GAZZA

Am 18. Mai 1991 verletzte sich der Weltklassespieler Paul Gascoigne schwer – und kehrte als solcher nicht mehr zurück. Hätte ihn ein Schiedsrichter “retten” können?

Diese Stufen. Diese gottverdammten Stufen. Links und rechts das anerkennende Zunicken und Schulterklopfen der Schaulustigen, oben wartete der Pokal.

Drauf geschissen.

Paul Gascoigne ging es nur um die Stufen. “Ich wollte sie unbedingt hinauflaufen, das war immer mein großer Traum gewesen.” Doch als die Spieler von Tottenham Hotspur die berühmten Stufen des Wembley-Stadions Schritt für Schritt erklommen, um den FA Cup in Empfang zu nehmen, war Gascoigne dazu gar nicht in der Lage. Er war nicht mal mehr im Stadion.

Stattdessen lag er mit kaputtgetretenem Knie vor einem kleinen Kastenfernseher einsam in seinem Krankenhausbett, als ihm genau in diesem Moment, den er sich seit Kindestagen ausgemalt hatte, die Tränen in die Augen schossen.

Was dem damals 23-Jährigen blieb, war der Besuch seiner Kameraden und eine Siegermedaille, von der er dachte, dass er sie gar nicht verdient hatte. Er blickte sie an, er blickte weg, wieder hin – und dann auf ein ganzes Jahr harte Arbeit, in dem er sich zurückkämpfen musste.

Doch das Ausnahmetalent Paul Gascoigne, das in England von einigen Leuten noch heute als ihr begabtester aller Spieler verehrt wird, erholte sich in dieser Form nie wieder.

Tragödien hatten den Weg des Mannes, den alle eigentlich nur “Gazza” rufen, schon früh gepflastert. Die aus Gateshead bei Newcastle stammende Familie war arm, sein Vater krank und Paul – eigentlich Paul John, wegen der beiden Beatles – erst zehn, als er mit dem kleinen Bruder seines besten Freundes nach einem Ladendiebstahl die Flucht ergriff – und Steven von einem Auto erfasst wurde.

Jahre später starb ein weiterer Freund, der Pauls Onkel bei Bauarbeiten half. Wie auch ein Cousin, Asthmatiker, den er entgegen der Empfehlungen der Ärzte zum Fußballspielen animierte.

Paul entwickelte Zwänge und Ticks, eine Reaktion seines Körpers auf all das Leid um ihn herum. Das Einzige, was ihn auf andere Gedanken kommen und seine Ticks für kurze Zeit aussetzen ließ, war der Fußball. Auf den weiten Wiesen der örtlichen Parkanlage formte sich ein einzigartiger Charakter.

“So sieht doch kein Fußballer aus”

Sein späterer Mitspieler und Freund Gary Lineker sollte über Paul einmal sagen, dass es neben seiner Verletzlichkeit vor allem seine unbändige Freude am Fußball und die fehlende Furcht davor waren, dass etwas, das er versuchte, nicht klappen könnte, was ihn zu solch einem außergewöhnlichen Spieler machte.

Hinzu kam eine einmalige Ballführung sowie eine – auch davon schwärmte Lineker – irrsinnige Kraft im Oberkörper, die Paul den Ball nahezu immer behaupten ließ. Das Ergebnis war ein junger Himmelsstürmer, der schon bald für Furore sorgte und über den River Tyne zu Newcastle United wechselte.

Dabei sah er laut dem Trainer der Magpies, Weltmeister Jack Charlton, “überhaupt nicht wie ein Fußballer aus”. Vom Vorsitzenden Stan Seymour Jr. wurde der schon immer etwas stabilere Gascoigne als “George Best ohne Hirn” bezeichnet und erhielt die Hälfte seiner 120 Pfund pro Woche, die sein erster Profivertrag abwarf, erst nach dessen Ablauf. Damit nicht das gesamte Salär Pauls Spielsucht zum Opfer fiel.

Sir Alex und das gebrochene Versprechen

Zum Dank bewahrte Gascoigne, der ziemlich schnell Stammspieler wurde, Newcastle ein Jahr später vor dem Abstieg. An der Tyneside wuchs der aufregendste Youngster des Landes heran, dem man mit gewöhnlichen Mitteln (zumindest nicht Vinnie Jones) kaum noch beikommen konnte. 1988 wurde er frischgebackene Nationalspieler und zur gefragtesten Ware Englands.

Legendäre Szene aus dem Jahr 1988: Vinnie Jones greift entschlossen dorthin, wo es besonders schmerzt. – Bild: www.huffingtonpost.co.uk

Auftritt Sir Alex Ferguson. Beziehungsweise Alex Ferguson, der zwar schon ein renommierter “Manager” war, mit Manchester United aber noch nichts gewonnen hatte. Weshalb er den 21-jährigen Gascoigne unbedingt haben wollte. Der freute sich, gab Ferguson sein Wort und schickte ihn beschwichtigend in den Sommerurlaub.

Als der künftige Sir dann aber aus Malta zurück nach England kam, staunte er nicht schlecht: Paul hatte sein Versprechen gebrochen und bei Tottenham unterschrieben, das Uniteds Angebot erwiderte, aber ein Haus für Gascoignes Eltern obendrauf legte. Für Paul, der ursprünglich nur Profi werden wollte, um seine Familie zu unterstützen, das Totschlagargument. Was wäre, wenn …

Doch auch bei den damals ambitionierten Spurs entwickelte er sich zu einem Star. Zu “Gazza” – fünf Buchstaben, die bald nicht nur jeder sportbegeisterte Brite zuordnen konnte. Gazza war Entertainment pur und für seine Mitspieler oft mindestens genauso gefährlich wie für seine Gegner.

Seine berüchtigten “Pranks” würden einen eigenen Artikel füllen, weswegen an dieser Stelle einfach mal stellvertretend angemerkt sei, dass sich Paul einmal aus einem Tierpark einen leibhaftigen Strauß borgte, mit diesem zum Training fuhr und ihn – in ein Spurs-Trikot gesteckt – auf seine Kollegen losließ.

Englands Sommermärchen

Im Sommer 1990 erlebte die ganze Welt Gascoignes unbändige Freude am Fußball, in all ihren Facetten. Gazza löste Begeisterung aus. Natürlich nirgends so wie in der Heimat, wo seine spektakuläre Spielweise und ganz besonders seine ergreifenden Tränen im Halbfinale gegen Deutschland endgültig für ein englisches Sommermärchen sorgten. “Ich glaube, dass ich den Fußball zurück in die englische Öffentlichkeit gebracht habe.”

Im WM-Halbfinale 1990 gewann Gascoigne das ziemlich direkte Duell mit Lothar Matthäus (l.), nicht aber das Spiel. – Bild: fifa.com/photos/galleries

“Sei bloß vorsichtig”, raunte Lineker dem Liebling unnachgiebiger Massen mit ernster Stimme zu, als die “Three Lions” bei ihrer Rückkehr nach England frenetisch empfangen wurden. Doch für Gazza würde es von nun an nur noch ein Leben vor und ein Leben nach Italia ’90 geben.

Bis das Fass explodiert

Seine positive Naivität, auf dem Platz sein größter Trumpf, machte ihn als Achillesferse fernab davon zum Liebling der Massenmedien – die ihre Lieblinge bekanntlich nicht bloß gerne hochjauchzen. Der permanente Druck, über den er klagte, ließ Gascoigne in der komplizierten ersten Saison nach der WM zu einem Pulverfass werden. Das sich am 18. Mai 1991 entzündete.

Das FA-Cup-Finale hätte sein triumphaler Abschied werden sollen; sein Wechsel zu Lazio, auf dessen Millionen die Spurs angewiesen waren, stand bereits fest. Und dominierte die Schlagzeilen vor dem Endspiel.

Er, der Star, müsse wieder liefern, erst recht nach seiner Gala im Halbfinale gegen Arsenal. Aber ist er für die Serie A, die beste Liga Europas, überhaupt hart genug? Kann er austeilen? Kann er einstecken? Die sogenannte “Yellow Press” machte ihn verrückt. Damalige Kollegen erinnern sich an einen völlig abgedrehten, übermotivierten Gascoigne, der schon in der zweiten Final-Minute hätte vom Platz fliegen müssen.

Warum sah Gascoigne nicht Rot?

Mit einem der übelsten Tacklings, die dieser Sport vielleicht jemals gesehen hat, traf er Nottingham Forests Garry Parker mit den Stollen an der Brust. Nun kam Schiedsrichter Roger Milford ins Spiel, der Paul noch nicht einmal mit Gelb verwarnte: “Ein paar Jahre zuvor hatte Peter Willis Kevin Moran Rot gezeigt. Und hinterher war überall zu lesen, dass der Schiedsrichter das Finale kaputtgemacht hätte.”

Rückblickend wäre Gascoigne wohl gerne duschen gegangen.

Denn wenige Minuten später passierte das, worüber Gascoigne selbst sagt, dass es Quatsch sei, wenn man dies als eigentliches Ende seiner vielversprechenden Karriere bezeichne; wenn man behaupte, dass es danach nur noch bergab ging. Nicht nur Nationalmannschaftskollege Stuart Pearce, an diesem Tag vor 30 Jahren sein Gegner und für nüchternste Sachlichkeit bekannt, glaubt aber genau das.

Gegen Gary Charles setzte Gazza zu einem weiteren wahnsinnigen Tackling an, das ebenfalls einen Platzverweis verdient gehabt hätte – und das Gascoignes Knie nachhaltig zerstörte. Dabei hatte er nur eine Woche zuvor noch ein Lehrvideo für Kinder gedreht, wie man genau grätschen müsse, um sich dabei nicht selbst zu verletzen.

Weil er Pauls große Schmerzen und einen Spurs-Physio sah, der kopfschüttelnd “He’s finished” zischte, entschied sich Schiedsrichter Milford erneut, auf die Rote Karte zu verzichten – und “würde das Gleiche wieder tun”. Dann trugen sie Gazza vom Feld.

In Gleichzahl gewann Tottenham das Endspiel, Paul Gascoigne ist FA-Cup-Sieger 1991. Vor allem aber ist er ein großes Rätsel. War er wirklich “der beste englische Spieler”, den sein Bewunderer Wayne Rooney je sah? Hätte der Lebemann sein Potenzial ohne die verhängnisvolle Knieverletzung tatsächlich vollends ausgeschöpft?

Es kam jedenfalls anders, was teilweise trotzdem sensationell und doch irgendwie enttäuschend war – womit der seither immer wieder abgestürzte und rehabilitierte Gazza inzwischen aber gut leben kann. Mit einer Sache allerdings nicht. Der Weg zu Wembleys Stufen öffnete sich ihm nie wieder.

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