2012 war José Mourinho als Trainer von Real Madrid drauf und dran, auch mit einem dritten Klub die Champions League zu gewinnen. Bis er sich im Halbfinale gegen die Bayern wahrscheinlich vercoachte. Wie das?
An der Seitenlinie von Tottenham Hotspur, wo er sogar ziemlich vielversprechend begonnen hatte, endete José Mourinhos Standing als Top-Trainer 2021 wohl endgültig. Seine Prinzipien des Defensiv- und Konterspiels wirken veraltet und längst nicht mehr “special”.
Ein Jahrzehnt zuvor war der Portugiese noch der Einzige gewesen, der es mit Pep Guardiola (und dessen FC Barcelona) aufzunehmen vermochte. Mourinho, der 2004 schon den FC Porto zum Champions-League-Titel geführt hatte, schloss sich nach dem Triple-Gewinn mit Inter Mailand 2010 den Königlichen an.
Bei Real Madrid machte er es sich zu seiner Aufgabe, das historisch starke Barca zu stürzen – was ihm mit sagenhaften 100 Punkten (und 121 Toren) in der Meisterschaft 2011/12 auch gelang. In dieser Saison waren die Blancos wahrscheinlich Europas stärkstes Team, doch im Halbfinale der Champions League scheiterte Madrid nach 210 Minuten gegen den FC Bayern im Elfmeterschießen. Hätte Mourinho die sogenannte Lotterie verhindern können?

1. Kopfsache
Die Königlichen waren hin- und hergerissen. Einerseits galt es in La Liga, die katalanische “Schreckensherrschaft” zu beenden. Drei Jahre in Folge war der FC Barcelona Meister geworden – und ausgerechnet zwischen den beiden Halbfinals gegen die Bayern, die nur eine Woche auseinanderlagen, stand der wohl entscheidende Clasico an. Den Real übrigens gewinnen sollte.
Aber andererseits war Mourinho auch verpflichtet worden, um “La Decima” zu erringen, den zehnten CL-Titel.
Während Madrid also zumindest im Hinspiel mit dem Kopf auch schon beim kommenden Wochenende war, richtete sich der Münchner Fokus auf ein glasklares Ziel: Die Bayern hatten ihr entscheidendes Topspiel beim BVB bereits verloren, die Meisterschaft war futsch. Nun also volle Kraft voraus – Kurs: Henkelpott. Mit dem Finale im eigenen Stadion. Bedeutete gegen Real auch: Stattliches Schonen zwischen den Spielen, was sich der Gegner nicht erlauben konnte.
2. Triple Trouble
Die CL mit Abstand am häufigsten gewonnen – sogar dreimal in Folge, als andere “Superteams” schon an der einfachen Titelverteidigung scheiterten. Eine Triple-Saison ist Real Madrid, anders als Barcelona oder den Bayern, allerdings noch nie geglückt.
Dabei war sie vor 2014 (Pokal- und CL-Sieg unter Carlo Ancelotti), als den Blancos auch wegen Verletzungen im Meisterrennen die Puste ausging, schon 2012 greifbar gewesen. Die 100-Punkte-Meisterschaft war hinten raus sogar relativ ungefährdet; im Pokal-Viertelfinale – natürlich gegen Barca – hatte Real eine Menge Pech gehabt. Und in der Champions League, von der Herangehensweise, wohl eine entscheidende Portion Unvermögen:
3. Die Blaupause
Wie es durchaus auch hätte laufen können, spielerisch, hatte die Anfangsphase des Hinspiels in München aufgezeigt. Die Königlichen, die unter Mourinho sehr wohl durch Ballbesitz und in einer aktiven Rolle dominieren konnten, taten dies auch. Sie wirkten technisch versierter und in engen Räumen spielstärker.
Real beschäftigte die Bayern, die kaum ins Spiel fanden, erspielte eine richtig gute Chance durch Karim Benzema und wirkte wie das Team, das den Verlauf dieser Paarung von vorne weg bestimmen würde.
Bis die Königlichen wieder derartig auftraten, sollte es allerdings eine ganze Weile dauern.
4. Heynckes kneift erfolgreich
Gegen den Lauf des Spiels war es nach 17 Minuten in München der FCB, der nach einer Ecke durch Franck Ribery glücklich in Führung ging (dazu mehr in Punkt 5). Eine Führung, die Mesut Özil kurz nach der Pause ausglich.
Ein zu diesem Zeitpunkt angebrachter Spielstand in einer inzwischen ausgeglichenen Partie, gegen deren Ende sich jedoch zwei unterschiedliche Herangehensweisen entwickelten. Heynckes wechselte offensiv und spielte auf Sieg, während dem defensiv wechselnden Mourinho ein Unentschieden im Auswärtsspiel frühzeitig zu reichen schien – im Hinterkopf natürlich auch den Clasico am Wochenende.

In der Folge griff also Bayern an, Real verteidigte. Dass dem deutschen Rekordmeister in der 90. Minute dann auch tatsächlich der Siegtreffer gelang, war einem taktischen Kniff Jupp Heynckes’ zuzuschreiben: Robben und Ribery überluden gemeinsam den rechten Flügel und zogen mehrere Gegenspieler nach innen, sodass der aufgerückte Lahm eine Eins-gegen-eins-Situation gegen Fabio Coentrao bekam – die er für sich entschied und anschließend den Siegtreffer auflegte.
5. Schiedsrichterentscheidungen
Nach ihren Duellen mit Real Madrid suchten die Bayern im vergangenen Jahrzehnt nicht selten die Schuld beim Schiedsrichter, der schon 2012 (zu 2017 wird ein weiterer Artikel erscheinen) eine gewisse Rolle spielte. Welche?
Begonnen hatte das “Was wäre, wenn” mit Bayerns unverhofftem Führungstreffer im Hinspiel, als Luiz Gustavo, der Iker Casillas bei Riberys Schuss die Sicht nahm, ganz klar im Abseits stand.
In der Nachspielzeit, es stand bereits 2:1 für Bayern, ließ sich Marcelo zu einem Tritt gegen Thomas Müller hinreißen, der statt Gelb auch Rot verdient gehabt hätte. Im Hinspiel hatte der Brasilianer zwar gar nicht angefangen, im Rückspiel, das er in diesem Fall gesperrt verpasst hätte, allerdings schon.
Im Rückspiel kam es früh zu einem bitteren, aber regeltechnisch zumindest nachvollziehbaren Handelfmeter gegen David Alaba, der zudem Gelb sah und deswegen im Finale fehlte. Wie auch zum noch immer frühen 2:0 durch Cristiano Ronaldo, der dabei hauchzart im Abseits gestanden hatte. Das Spektrum der “gleichen Höhe” hat diese Szene ziemlich ausgereizt, der VAR hätte sie definitiv zurückgenommen.
Kurz vor der Pause, München hatte per relativ unstrittigem Foulelfmeter auf 1:2 verkürzt, hätten auch die Gäste in Madrid wohl auf einen Handelfmeter pochen können – der allerdings durch einen Freistoß zustande gekommen wäre, den es wegen einer typischen Robben-Schwalbe nie hätte geben dürfen.
Die letzte Strafstoß-Szene, bevor es nach 210 Minuten ins Elfmeterschießen ging, ereignete sich vor Manuel Neuer, der gegen Esteban Granero nicht den Ball spielte, sich selbst aber noch so weit abbremsen konnte, dass der Kontakt gegen den Madrilenen nicht für einen Pfiff ausreichte.
6. Dortmund hilft den Bayern
Dass die Bayern 2012 ihr “Finale dahoam” erreichten, hatten sie auch Widersacher Borussia Dortmund zu verdanken. Mehrere Erfahrungen aus den Duellen mit Klopps BVB bereiteten den FCB quasi ideal auf Madrid vor.
Zum einen verschaffte München das aktive, sehr hohe Aufrücken seiner Außenverteidiger, ohne das man ein Jahr zuvor gegen Dortmund kein Land gesehen hatte, einen Dominanz-Vorteil gegen die Königlichen, die durch ein konservativeres Nutzen selbst von Marcelo auf diese Weise weniger Druck erzeugen konnten.
Zum anderen war Bayern wohl auch durch die Erfahrung mit Dortmunds berühmtem “Ausschwärmen” in der Lage, erstaunlich gut mit Reals brandgefährlichem Konterspiel umzugehen, das nur gelegentlich zur Geltung kam.
Außerdem spielte der FCB gegen den Ball – selbst Mario Gomez arbeitete intensiv mit – generell aktiver und damit moderner als Madrid, was gegen die Spanier weitere Feldvorteile erzeugte. Auch das wurde sich ein Stück weit beim bis heute letzten wirklich erfolgreichen BVB abgeschaut.
7. Der Klassiker
Was genau ist eigentlich ein Klassiker? Bayern gegen Dortmund jedenfalls nicht, dann schon eher gegen die andere Borussia. Inzwischen wird der Begriff, auch in anderen Sprachen, gar für weitaus weniger bedeutsame Duelle missbraucht.
Der FC Bayern gegen Real Madrid hingegen ist der europäische Klassiker schlechthin. Die beiden erfolgreichsten Europapokal-Mannschaften, deren direkte Aufeinandertreffen stets für hochqualitatives Spektakel stehen. Ob in den 70ern mit Beckenbauer und Müller gegen Breitner und Netzer, die Schlachten der 80er oder regelrechte Serien um die Jahrtausendwende und nach 2012, als die Königlichen in der Königsklasse zu Seriensiegern wurden.
Die Creme de la Creme.
8. Spätes Bedauern
Der bis heute letzte Beweis, dass es die berüchtigte “Bestia negra” noch gibt, wurde 2012 erbracht. Weil die Bayern einfach den Tick geschlossener, lauf- und kampfstärker, unnachgiebiger und effizienter waren? Oder hat sich Mourinho, selbst wenn es nach 210 Minuten quasi 3:3 stand (Ballbesitz und Torschüsse nahezu ausgeglichen), entscheidend vercoacht?
Die Verlängerung von Madrid jedenfalls schien erstere These irgendwie widerlegt und zweitere wohl oder übel bestätigt zu haben. Sie zeigte, dass es doch eigentlich ging. In den zweimal 15 Minuten spielte und dominierte fast ausschließlich Real, das zuvor – wie nach dem 1:1 im Hinspiel – teilweise in fatale Passivität verfallen war.
Irgendwann lauerten die Blancos zu tief, wurde der Weg zu Neuer bei Kontern zu weit. Es gab zwar noch eine sehr gute Gelegenheit durch den eingewechselten Kaka und die angesprochene Elfmeterszene um Granero, doch womöglich hatte sich Mourinho zu sehr an den aussitzenden Ansatz erinnert, mit dem er als Inter-Trainer 2010 Guardiolas Barca bezwungen hatte. Und dann konnte “The Special One” nur noch zuschauen.
9. Das Elfmeterschießen
Was die einen als Lotterie bezeichnen und die anderen als beste Methode, solch einen ausgeglichenen Schlagabtausch fair zu entscheiden, blieb das, was schon die vorangegangenen knapp vier Stunden Spielzeit waren: ein Spektakel.
Extrem souverän eröffnete der gerade mal 19 Jahre alte Alaba, ehe sich Neuer für die reguläre Spielzeit revanchierte und Cristiano Ronaldos Strafstoß parierte. Und den von Kaka anschließend auch. Neuer gewissermaßen gegenüber stand allerdings kein Geringerer als “San Iker” Casillas, der im Spiel schon beinahe gegen Robben pariert hätte und das im Elfmeterschießen gegen Toni Kroos und Philipp Lahm tat.
Auftritt Sergio Ramos. Zwischen den Torleuten stand es nach parierten Elfmetern 2:2, als Madrids noch langhaariger Abwehrchef, der inzwischen als sehr sicherer Schütze gilt, seinen Versuch beim potenziell ausgeglichenen Stand von 2:1 für Bayern weit über den Querbalken jagte. Seither vor allem kultig, am 25. April 2012 ganz entscheidend. Bastian Schweinsteiger, Wochen später die tragische Figur, schoss die Bayern daraufhin ins Finale von München.
10. Zwei Verlierer, zwei Gewinner
Keiner trifft so gerne gegen Ausnahmetorwart Neuer wie Cristiano Ronaldo. Zwar schoss der Portugiese auch 2012 zwei Tore gegen den Deutschen, der im entscheidenden Moment aber die Oberhand behielt. Auch die dritte Saison in Madrid blieb also ohne Henkelpott, der wie von Landsmann Mourinho auch von CR7 erwartet wurde.

Es waren zwei überschaubare Auftritte des damals 27-Jährigen, der mit einem bärenstarken Lahm große Probleme hatte, der nicht lange nach der vermeintlich vermeidbaren Enttäuschung aber auch ein paar wichtige Worte an den königlichen Anhang richtete: “Ich schulde euch ein Champions-League-Finale. Und vertraut mir, ich werde euch nicht enttäuschen.”
Dass Cristiano Ronaldo das verlangte Vertrauen mehr als nur rechtfertigte, ist bestens dokumentiert – und Teil eines Weges, der die Verlierer von 2012 eint. Denn es sei nicht nur das Gedankenspiel erlaubt, dass sich noch nicht titelreife Königliche durch einen CL-Sieg 2012 gar nicht zu dieser weniger stilbewussten Erfolgsmaschine entwickelt hätten, die 2014, 2016, 2017 und 2018 triumphierte.
Bei den Bayern hätte es nach dem zweiten Platz in der Meisterschaft, dem Debakel im Pokalfinale, dafür aber dem gewonnenen “Finale dahoam” womöglich kein Triple gegeben, keinen Guardiola und keine Besessenheit von absoluter Perfektion, die diese schmerzhafte Vize-Saison 2011/12 unwiderruflich ausgelöst hatte. Und die 2022 für Heranwachsende sorgt, die nur einen einzigen deutschen Meister kennen.
Wahrscheinlich war die Niederlage gegen Chelsea also das Beste, was dem modernen FC Bayern München je passiert ist.