2017 verteidigte Real Madrid als erste Mannschaft die Champions League – weil den Königlichen im Viertelfinale gegen Bayern der Schiedsrichter half, wie nicht nur einige Fans des deutschen Rekordmeisters glauben. Aber stimmt das überhaupt?
“Wir sind beschissen worden”, klagte Bayerns Vorstandsboss Karl-Heinz Rummenigge bitterlich, nachdem Real Madrid auf dem Weg zur ersten Titelverteidigung in der Champions League seinen FC Bayern ausgeschaltet hatte. Noch mehr als im Halbfinale 2012 war der Schlagabtausch der zwei wohl größten europäischen Vereine im Viertelfinale 2017 zu einem herrlichen Spektakel avanciert.
Dass vor allem das Rückspiel (insgesamt gewannen die Königlichen mit 6:3) seither jedoch nicht in erster Linie mit seinen sportlichen Geschehnissen in Verbindung steht, lag an mehreren zweifelhaften Entscheidungen der Schiedsrichter Nicola Rizzoli und Viktor Kassai. Wobei ich mir beim wiederholten Betrachten beider Spiele die Frage stellen musste: Profitierte wirklich Real Madrid?
Das Hinspiel in fünf Sätzen
Auch im ersten Jahr nach Pep Guardiola war dem inzwischen von Ex-Real-Coach Carlo Ancelotti trainierten FC Bayern der Einfluss des Katalanen noch klar anzumerken. In München begann ein extrem dynamischer FCB dominant und ging nach einer Ecke durch Arturo Vidal verdient in Führung (25.) – noch vor der Pause verpasste der Chilene das 2:0, weil er einen Elfmeter verschoss.
Kurz nach der Pause glich ein umschaltstarkes Real Madrid durch Cristiano Ronaldo aus (47.) und wurde stärker – erst recht, als Javi Martinez (Gelb-Rot) die Bayern ab der 61. Minute dezimiert zurückließ. CR7 stellte schließlich auch auf 2:1 für die Gäste (77.), ein herausragender Manuel Neuer verhinderte mit mehreren Glanzparaden eine noch höhere Niederlage für die Bayern. Lobenswert sei angemerkt, dass Sergio Ramos in der Nachspielzeit noch das vermeintliche 3:1 köpfte, die vorliegende Abseitsposition jedoch erkannt wurde.
FC Bayern: Neuer – Lahm, Martinez, Boateng, Alaba – Xabi Alonso (63. Bernat), Vidal – Robben, Thiago, Ribery (66. Costa) – Müller (81. Coman).
Real Madrid: Navas – Carvajal, Nacho, Sergio Ramos, Marcelo – Modric (90.+1 Kovacic), Casemiro, Kroos – Bale (59. Asensio), Benzema (83. James), Cristiano Ronaldo.
Tore: 1:0 Vidal (25.), 1:1 Cristiano Ronaldo (47.), 1:2 Cristiano Ronaldo (77.).
Platzverweise: Gelb-Rot für Martinez (61.).
Schiedsrichter: Nicola Rizzoli (Italien)
Hier gibt es das Hinspiel in voller Länge
Das Rückspiel in fünf Sätzen
In Madrid trat Real trotz des Hinspiel-Vorsprungs wesentlich aktiver auf, noch aktiver blieben über weite Strecken die darauf gedrillten Bayern – Marcelo rettete im Fünfer gegen Thiago (9.). Wesentlich häufiger gefährlich wurden allerdings die Königlichen, die sich vor der Pause Großchance um Großchance erspielten, einmal klärte Jerome Boateng für den geschlagenen Neuer auf der Linie.
Doch in Führung ging zu Beginn der zweiten Hälfte der FCB: Arjen Robben holte einen Elfmeter raus, den der im Hinspiel noch verletzt fehlende Robert Lewandowski verwandelte – kurz zuvor hatte auch Marcelo auf der Linie retten müssen. Bayern spielte daraufhin auf den zweiten Treffer, doch Real zog wieder an und erzielte durch Cristiano Ronaldo das 1:1 (76.). Postwendend erzwangen die Münchner ein Eigentor durch Sergio Ramos (77.) und dadurch die Verlängerung, in der sie allerdings erneut zu zehnt spielten (Gelb-Rot Vidal, 84.) und durch drei weitere Real-Tore am Ende relativ deutlich scheiterten.
Real Madrid: Navas – Carvajal, Nacho, Sergio Ramos, Marcelo – Modric, Casemiro, Kroos (114. Kovacic) – Isco (71. Vazquez) – Benzema (64. Asensio), Cristiano Ronaldo.
FC Bayern: Neuer – Lahm, Boateng, Hummels, Alaba – Xabi Alonso (75. Müller), Vidal – Robben, Thiago, Ribery (71. Costa) – Lewandowski (88. Kimmich).
Tore: 0:1 Lewandowski (Elfmeter, 53.), 1:1 Cristiano Ronaldo (76.), 1:2 Sergio Ramos (Eigentor, 77.), 2:2 Cristiano Ronaldo (105.), 3:2 Cristiano Ronaldo (109.), 4:2 Asensio (112.).
Platzverweise: Gelb-Rot für Vidal (84.).
Schiedsrichter: Viktor Kassai (Ungarn)
Hier gibt es das Rückspiel in voller Länge
Der Elfmeter
Die erste klare Fehlentscheidung dieser Paarung hatte beim FC Bayern wahrscheinlich die wenigsten gestört. Im Hinspiel schoss Franck Ribery kurz vor der Pause aus etwa 15 Metern aufs Tor, Dani Carvajal blockte mit irgendetwas zwischen Schulter und Brust, jedenfalls eindeutig nicht mit dem Arm – den Strafstoß für die Hausherren hätte es niemals geben dürfen. Ganz gleich ob Torschütze Arturo Vidal dem geschenkten Gaul ins Maul schaute und den Ball über das Tor schoss.
Die erste Unterzahl
Nach einer Stunde in München, Real war nach dem Ausgleich stärker geworden, unterband Javi Martinez binnen drei Minuten zwei gefährliche Konter über Cristiano Ronaldo regelwidrig. Beide Vergehen waren durchaus gelbwürdig gewesen, Gelb-Rot zwischen der 58. und der 61. Minute war aber schon sehr konsequent. Eine daher zwar diskussionswürdige, jedoch sicherlich keine falsche Entscheidung. Die Münchener Proteste blieben überschaubar.
Abseits (?)
Schon im Hinspiel haderte der FCB mit einer Situation, in der Thomas Müller fälschlicherweise zurückgepfiffen wurde, in der er von Nacho aber wahrscheinlich noch hätte gestört werden können. Für mehr Aufregung sorgte daher ein Steilpass im Rückspiel, als Lewandowski beim Stand von 0:1 definitiv alleine auf Keylor Navas hätte zulaufen dürfen. Diese Szene war in der Tat jedoch so knapp, dass sie ohne VAR nicht aufzulösen und daher keine klare Fehlentscheidung war.

Weitere Elfmeter
Wie fälschlicherweise im Hinspiel bekam Bayern auch im Rückspiel einen Strafstoß zugesprochen – keinen zwingend eindeutigen. Aber obwohl nicht jeder Kontakt ein Foul ist und Robben relativ viel daraus machte, lässt sich ein gewisser Kontakt ziemlich sicher erkennen, während Casemiro definitiv nicht den Ball spielte. Eine klare Fehlentscheidung war dieser Pfiff zugunsten des FCB jedenfalls nicht. Lewandowski verwandelte zum 1:0.
Hätte aber auch Real Madrid im Rückspiel (beim Stand von 1:2) einen Elfmeter kriegen müssen (leider keinen Clip gefunden)? Casemiro, der in der Verlängerung eigentlich nicht mehr hätte auf dem Feld stehen dürfen, kam gegen Boateng zu Fall, der einen Kontakt erzeugt und den Ball ebenfalls nicht gespielt hatte – eine ähnliche Gemengelage wie zuvor bei Robben. Und demnach keine klare Fehlentscheidung.
Das Tor zur Verlängerung
Ehe es in der Verlängerung von Madrid erst zu den großen Fehlentscheidungen pro Real kommen konnte, hatte die zweite große Fehlentscheidung pro Bayern dafür gesorgt, dass sie es überhaupt so weit schafften. Eine Minute nach dem 1:1 durch Cristiano Ronaldo (legal) erzwangen Müller und Lewandowski ein kurioses Eigentor durch Sergio Ramos, das nicht hätte zählen dürfen. Der aktiv eingreifende Lewandowski hatte eindeutig im Abseits gestanden, als Müller den Ball zum Polen ablegte.
Wenige Jahre später hätte der VAR eingegriffen – und dem FCB hätte ein weiterer Treffer gelingen müssen, um die Verlängerung zu erreichen.

Casemiro und Vidal
Ein großes Augenmerk lag im Rückspiel auf den Raubeinen Casemiro und Vidal – Münchens Abräumer sah kurz vor dem Ende der regulären Spielzeit Gelb-Rot, sein Madrider Gegenpart nicht. Wieder eine gute halbe Stunde Überzahl für Real. Eine Fehlentscheidung?
Für sich stehend wären in beiden Fällen beide Möglichkeiten (Platzverweis oder nicht) vertretbar gewesen, zusammen genommen fehlt jedoch die Gleichmäßigkeit.
Bei Vidal sei angemerkt, dass der Chilene bereits nach fünf Minuten für eine Grätsche gegen Iscos Knöchel, die mit dem Ball mal so gar nichts zu tun hatte, glatt Rot hätte sehen dürfen. Er sah Gelb. Ein zweites gelbwürdiges Einsteigen, gegen Casemiro, leistete sich Vidal kurz nach der Pause (48.). Dieser Platzverweis (Gelb-Rot) wäre – beim Stand von 0:0 – angemessen gewesen. Doch erneut wurde Bayerns Anheizer verschont, auf den Kollegen wie Thiago oder David Alaba daraufhin eindringlich einredeten. Ein emsiges Beharken Iscos zehn Minuten später war dann in der Tat zu wenig, um zu diesem Zeitpunkt die Ampelkarte zu zücken.

Gegenpart Casemiro leistete sich schon im ersten Abschnitt drei Fouls. Bereits beim zweiten hätte Kassai dem Brasilianer Gelb zeigen können (38.), nach dem dritten, nur eine Minute später, dann aber müssen. Und so geschah es auch: Gelb für Casemiro, keine Fehlentscheidung.
Kurz nach der Pause, es war sein erstes Vergehen seit der Verwarnung, verschuldete Casemiro den Elfmeter der Bayern (53.). Im Hinspiel hatte Carvajal dafür Gelb gesehen, dieser hatte in den Augen des Schiedsrichters aber mit dem Arm einen Schuss aufs Tor verhindert. Casemiro hingegen foulte Robben, der sich vom Tor wegbewegte, nur leicht, eine Bayern-Chance hätte es ansonsten anschließend nicht unbedingt gegeben. Hier noch keine zweite Karte zu zeigen war daher nachvollziehbar. Dennoch war Casemiro nun akut gefährdet – woran er sein Spiel nicht anpasste.
In der 80. Minute, kurz zuvor hatte er Cristiano Ronaldos Ausgleich vorbereitet, kam der ungestüme Madrilene gegen Robben deutlich zu spät – und hätte wohl Gelb-Rot sehen müssen. Zumindest in Anbetracht dessen, was wenig später geschah: In der 84. Minute, Bayern führte durch das Abseits-Tor inzwischen mit 2:1, wurde Vidal für sein nächstes Einsteigen gegen Asensio mit Gelb-Rot des Feldes verwiesen – was man übrigens ahnden konnte, da er noch vor dem Ball seinen Gegenspieler getroffen hatte.
War es also eine klare Fehlentscheidung, Vidal des Feldes zu verweisen? Nein. Womöglich ließe sich sogar argumentieren, dass es keine klare Fehlentscheidung war, Casemiro zu diesem Zeitpunkt noch mal eine Chance zu geben (Vidal hatte nach seiner ersten Gelben Karte öfter gefoult). In Kombination waren diese Entscheidungen jedoch unausgewogen und ungerecht zum Nachteil der Bayern. Beide Mannschaften hätten ob der klaren Linie zu zehnt in die Verlängerung gemusst – die Real normalerweise wahrscheinlich nicht benötigt hätte.
Die Ronaldo-Tore
Der Part dieses atemberaubenden Spektakels, der den meisten noch am präsentesten ist. In Überzahl stellten drückende Königliche in der Verlängerung auf 2:2 und 3:2, Torschütze Cristiano Ronaldo traf ohne Zweifel jeweils aus einer Abseitsposition. Beide Treffer hätten nicht zählen dürfen und wären vom VAR einkassiert worden, nur drei der insgesamt fünf CR7-Tore fielen also legal. Der 4:2-Schlusspunkt durch Marco Asensio, ein tolles Solo, war dann wieder regelkonform.


Fazit
Der FC Bayern durfte sich ob zweier starker Leistungen durchaus grämen, im CL-Viertelfinale 2017 ausgeschieden zu sein, in dem er in vielen Aspekten sicherlich nicht die schlechtere Mannschaft gewesen war. Die erste ungerechte Schiedsrichterentscheidung ereilte ihn allerdings erst nach 170 Minuten, als er bereits selbst von zwei eindeutigen Fehlentscheidungen profitiert hatte.
Unterm Strich ist es wegen der reinen Spekulation der Auswirkungen zwar nicht gesichert, aber realistisch gesehen dennoch sehr unwahrscheinlich, dass Bayern es ohne jegliche Fehlentscheidungen überhaupt in die Verlängerung geschafft hätte, in der es dann zu den zwei klaren Fehlentscheidungen pro Real Madrid kam. Betrogen – das wurden am ehesten also beide. Sogar relativ gleichermaßen.
Ein Duell, das fußballerisch wohl keinen Verlierer verdient gehabt hatte, endete zumindest mit einem Gewinner, der in 210 intensiven Minuten, von denen er immerhin 144 in Gleichzahl spielte, 24:5 Schüsse aufs Tor abgab. Womöglich verlor Rummenigge bei seiner Bankettrede also auch deshalb den Kopf, weil seine balldominante Mannschaft in den entscheidenden Momenten einfach zu harmlos gewesen war.