Am 17. Juni 2001 stand der FC Barcelona mit dem Rücken zur Wand. Und Rivaldo mit dem Rücken zum Tor.
Weshalb Rivaldo das Tor in diesem Moment nicht sehen konnte. Doch er sah Frank de Boer. Die Körperhaltung, der kurze Blick nach oben. Dennis Bergkamp wusste bescheid. Rivaldo auch.
Noch mancher Physiker wäre bei der Berechnung der Genauigkeit dieses Zuspiels ins Staunen geraten, während Vitor Borba Ferreira, in Armut aufgewachsen, von Physik vielleicht noch nie etwas gehört hatte. Der Schlaks aus Recife, dessen Unterernährung unter anderem eine seltsame Beinkrümmung verursacht hatte, verließ sich auf Augenmaß, Raumgefühl und Intuition. Praxis statt Theorie.
Rivaldo schien einfach zu wissen, dass der sich reckende und streckende Ruben Baraja in seiner Kindheit ebenfalls ein paar Fruchtzwerge mehr benötigt hätte. Bei 1,85 statt 1,80 Metern Körpergröße wäre Valencias Doppeltorschütze an de Boers Chipball noch herangekommen.
Sechs Jahre ohne Titel
Der Frühsommer 2001 fiel mitten in eine Zeit – frei nach Real Madrids damaligem Trainer Vicente del Bosque -, in der der FC Barcelona Jahr für Jahr nur ein Ereignis zu feiern hatte: den eigenen Geburtstag. Auf dem Zeitstrahl irgendwo zwischen Johan Cruyff und Lionel Messi steckten die Katalanen, die Galionsfigur Luis Figo ausgerechnet an den Erzrivalen verloren hatten, finanziell, ideell und vor allem sportlich in der Krise. Sechs Jahre ohne Titel.
Die Primera Division ragte 2000/01 bis tief in den Juni hinein, sodass Barcas Gegner am letzten Spieltag, der FC Valencia, das Champions-League-Finale gegen den FC Bayern bereits verloren hatte. Das zweite Jahr in Folge. Das erste Mal war gegen Real Madrid gewesen, das am 17. Juni 2001 seine Meisterfeier abhielt, während der FC Barcelona gegen den zweimaligen Finalisten versuchen musste, irgendwie noch die Champions League zu erreichen.
Ein Pflichtsieg für die Zukunft
An diesem Sonntagabend vor inzwischen über 20 Jahren war das Camp Nou nicht ausverkauft. Auf Platz fünf liegend musste der Vierte, Valencia, in Barcelona geschlagen werden – sonst würde die Königsklasse ohne den FCB stattfinden. Richtig gelesen. Und wer weiß, wo der Weg hinführen würde, wenn das nicht gelänge. Der große Glaube des Anhangs war entsprechend gehemmt.
Außerdem musste man sich auf einen Mann verlassen, mit dem einige Fans – anders als bei Figo (vor dem Abgang) – kaum wärmer geworden waren als Trainer Louis van Gaal, der in dieser Phase allerdings nicht im Amt war. Weshalb Rivaldo unter Carles Rexach im 3-4-3 nicht links ranmusste, sondern auf der Zehn randurfte. Was, wie sich herausstellte, Barcas einzige Hoffnung war.

Schon nach drei Minuten zirkelte der 29-jährige Brasilianer einen Freistoß vom Innenpfosten ins Tor, weil John Carew in der Mauer nicht hochgesprungen war. Der Jubel im Camp Nou war groß, die Stimmung weiter angespannt. Baraja glich aus.
Barca ist ein Ein-Mann-Team
Im womöglich wegweisendsten Spiel der jüngeren Vereinsgeschichte hatte der FC Barcelona augenscheinlich nur ein einziges Pferd im Stall. Rechtsaußen Simao traf zwar die Latte, ansonsten lief eigentlich alles über Rivaldo, den Valencia mit kleinen Fouls aus dem Rhythmus zu bringen versuchte. Der Linksfuß kontrollierte das Spiel nicht, aber er schlich und lauerte viel. Und er wusste genau, wann er sich einschalten musste.
In der Nachspielzeit der ersten Hälfte ließ Rivaldo, gut 20 Meter Torentfernung, Kily Gonzalez mit einer Finte sämtliche Grundkenntnisse der Motorik verlernen – und jagte die Kugel per Gewaltschuss derart ins Eck, dass er dabei selbst die Bodenhaftung verlor. 2:1.
Baraja glich aus.
Nervosität, Sorge und Ohnmacht brachten Fans und Spieler im Camp Nou in Einklang. Nur einer erschien unberührt. Um die Jahrtausendwende war Rivaldo der Spieler, der das fußballerisch Unmögliche möglich machen konnte. Aber auch nicht immer, eine Viertelstunde vor Schluss wischte Santiago Canizares Rivaldos direkt getretenen Eckstoß noch über die Latte. Valencia reichte das Remis.
Die Guardiola-Symbolik
Der enttäuschende Patrick Kluivert war bereits ausgewechselt und Rivaldo auf die Mittelstürmerposition beordert worden, als de Boer in der 89. Minute einen der letzten katalanischen Angriffe nach vorne trieb. Er trabte aufrecht, blickte nach oben – und sah, was er sehen musste. In der Theorie hätte es an diesem Sonntagabend auch andere Anspielstationen gegeben, aber mit Theorie berechnest du ein solches Zuspiel nicht.
Das 3:2 hätte in diesem Moment den Sieg, die CL-Qualifikation und mindestens 23 Millionen Mark bedeutet. Und vielleicht eine Zukunft, an die bei Pep Guardiolas letztem Liga-Auftritt als Barca-Spieler noch lange nicht zu denken war.
Rivaldo hatte sich jedenfalls in Position gebracht, als der Ball de Boers Fuß verließ, sich Zentimeter hinter Barajas Haarspitzen auf seine Brust senkte und erst wieder den Boden berührte, als sich piekfeine Anzugträger auf dem Oberrang beinahe die Krawatten vom Hals rissen.