Robert Schlienz: DER EINARMIGE

Vielleicht war Robert Schlienz der größte Spieler, den der VfB Stuttgart jemals hervorgebracht hat. Ganz sicher aber ist seine Geschichte eine der außergewöhnlichsten, die der deutsche Fußball bisher zu bieten hatte.

Nur um wenige Zentimeter verfehlte der Schuss sein Ziel. So zertrümmerte die Gewehrkugel nur den Kiefer von Robert Schlienz, den eine große Narbe zeitlebens an den Zweiten Weltkrieg erinnern sollte. Durch die Verletzung durfte er diese Hölle an der Ostfront hinter sich lassen, ein paar seiner Mitspieler aus der großartigen A-Jugend des FV Zuffenhausen hatten weniger Glück.

Das Klassentreffen fiel entsprechend traurig aus. Fünf Kameraden einer Mannschaft, die im Stuttgarter Raum selbst den VfB und die Kickers vorgeführt hatte, waren gefallen. Wieder aufgebaut wurden 1945 zunächst freilich andere Dinge – und im Fußball dann der VfB vor dem SVZ. Die Stuttgarter rissen sich den eiskalten Mittelstürmer sogleich unter den Nagel.

Den Brustring hatte der 1924er bereits gegen Ende des Krieges als Gastspieler getragen, anschließend ging Schlienz in der noch 1945 gegründeten süddeutschen Oberliga – damals die höchste Spielklasse – auch ganz offiziell für den VfB auf Torejagd. Schon in seiner ersten Saison knipste der Rechtsfuß 1945/46 in 30 Spielen ganze 46-mal, was auf diesem Niveau bis heute Rekord bleibt. Mitte der 40er gab es in Süddeutschland wahrscheinlich keinen verheißungsvolleren Nachwuchsstürmer.

Doch ehe Bundestrainer Sepp Herberger den Schwaben im November 1950 ausgerechnet in Stuttgart für Deutschlands erstes Länderspiel nach dem Krieg berücksichtigen konnte, hatten sich die Dinge schlagartig geändert.

Der 14. August des Jahres 1948 war ein brütend heißer Sommertag gewesen, an dem Robert Schlienz mit den Gedanken ohnehin ganz woanders war. Am Vortag war seine Mutter verstorben, weshalb er zum Mannschaftstreffpunkt für ein Pokalspiel gegen den VfR Aalen leicht verspätet auf eigene Faust anreiste. Um der Mittagshitze ein wenig entgegenzuwirken, ließ Schlienz gedankenverloren einen Arm aus dem Fenster baumeln, als der von einem Freund geborgte Opel in ein Schlagloch sackte – und auf die Fahrerseite fiel. Schlienz’ linker Unterarm war nicht mehr zu retten, die Amputation wenige Stunden später alternativlos.

Fritz Walter und Robert Schlienz bei der Seitenwahl vor dem Meisterschafts-Finale 1953. – Bild: n-tv.de/sport

Eine große Karriere schien zerstört zu sein, noch bevor sie so richtig Fahrt aufnehmen konnte. Sogar Schlienz selbst hatte sich irgendwie abgeschrieben. Ein Mann aber glaubte noch an den damals 24-Jährigen – und wie. Sein Trainer Georg Wurzer schob für Schlienz Extraschichten und dachte sich für dessen Körpergefühl und Balance eigens entwickelte Übungen aus. Eines war jedoch auch Wurzer klar: Aus dem robusten Strafraumgetümmel musste der Torjäger wohl oder übel raus.

Wurzer zog Schlienz auf die Position des Außenläufers zurück, von wo aus er den natürlichen Anführer trotzdem mindestens ebenso sehr ins Stuttgarter Angriffsspiel einband wie zuvor. Im Stile eines modernen einrückenden Außenverteidigers kurbelte Schlienz nun von weiter hinten an, was ihm erstaunlich gut lag. Nicht nur fußballerisch. “Wenn du beim Schlienz nicht mar­schiert bist”, erinnerte sich Mit­spieler Lothar Weise, ​”ist er quer über den Platz gerannt und hat dir in den Arsch getreten.”

Der berühmte Sportautor Hans Blickensdörfer attestierte Schlienz indes, “die allerhöchste Stufe” dessen zu sein, “was die Engländer einen ‘Matchwinner’ nennen” – was das Aushängeschild des VfB in den 1950er Jahren prächtig unter Beweis stellte. 1950 und 1952 – mit einem Traumvolley gegen den 1. FC Saarbrücken – führte er Stuttgart zu den ersten deutschen Meisterschaften der Vereinsgeschichte, hinzukamen 1954 und 1958 zwei Erfolge im DFB-Pokal.

Nun war es selbst Herberger, der ob der Befürchtung, Gegenspieler könnten sich gegen den einarmigen Schlienz zurückhalten, nicht mehr möglich, den omnipräsenten Führungsspieler zu ignorieren. Auch wenn Deutschlands umjubelter Weltmeistertitel 1954 – ohne den Autounfall wäre es vielleicht anders gekommen – ohne Schlienz stattfand. Für immerhin drei Länderspiele sollte es 1955 und 1956 reichen, eigentlich zu wenig für einen wie ihn.

Die große internationale Anerkennung sollte dem 1995 verstorbenen Schlienz, nach dem beim VfB Stuttgart das Stadion der zweiten Mannschaft benannt wurde, aber dennoch zuteilwerden. Mit dem VfB hatte der Weinhändler und Inhaber eines Sportgeschäftes in diesen Jahren ein Freundschaftsspiel gegen die spanische Nationalmannschaft bestritten und bei einem ganz besonderen Gegenspieler mächtig Eindruck hinterlassen.

“Der Einarmige war der beste Mann auf dem Platz”, staunte Alfredo di Stefano nicht schlecht. “Was ich von ihm gesehen habe, war für mich bisher unvorstellbar gewesen.” Auch Georg Wurzer dürfte “Don Alfredo” damit ein zufriedenes Schmunzeln bereitet haben.

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