Am 20. Juni 1997 wechselte Ronaldo, das “Phänomen”, gegen seinen Willen zu Inter Mailand. Was nicht erst der Anfang vom Ende war, sondern bereits das Einbiegen auf dessen Zielgerade.
Jedes Spiel ein Tor, dabei trifft er sogar 20-mal nur Aluminium. Das ist seine Quote, die ganze Saison lang. Ende 1996 wird Ronaldo Luis Nazario de Lima zum Weltfußballer gekürt für ein Jahr, in dem er größtenteils 19 gewesen war. Ein Teenager, der noch Zahnspange trägt, der aber auch spezielle Schienbeinschoner aus Carbon trägt, weil man ihn auf fairem Wege kaum stoppen kann.
Ein Jahr zuvor war Ronaldo bereits als teuerster Spieler der Welt nach Katalonien gekommen – und hatte den FC Barcelona beinahe im Alleingang von einer lediglich relativ guten zu einer der besten Mannschaften Europas gemacht. In den USA hätte er noch nicht einmal Bier trinken dürfen. Der “Außerirdische” – so tauft ihn die spanische, nein die Weltpresse – stellt mit seiner Geschwindigkeit, seiner Dribbelstärke und seinem Zug zum Tor fußballerisch ein neues Level dar. Der Superstürmer 4.0. Was leider nicht nur sportlich zu verstehen war.
Die Wunder-Saison 1996/97, die quasi mit Olympia begonnen hatte und mit dem Triumph bei der Copa America endete, sie bleibt Ronaldos einzige bei Barca. Der Außerirdische zieht weiter. Er muss. Denn bei ihm geht es nicht mehr nur um Fußball, zumindest nicht um den, den man bisher zu kennen glaubte. Mit den unglaublichen Leistungen seines Schützlings hatte ein Team aus zwielichtigen Gestalten, die sich Manager und Berater schimpften, mehr oder weniger gerechnet – man hatte, in den ersten Jahren nach dem Bosman-Urteil, nüchtern kalkuliert.
Schon als “R9” aus Brasilien nach Eindhoven gewechselt war, hatten sie stets an den nächsten, an den übernächsten Schritt gedacht. Und an mehr, an immer mehr. Mehr Ruhm, mehr Macht, mehr Geld. Selbst wenn dafür Steroid-Behandlungen “nötig” waren, weil Ronaldo zunächst recht schmächtig dahergekommen war. Die Muskulatur ächzte.
Sportlich lief es in Barcelona genial, wieso sollte der Weltfußballer die Blaugrana nach nur einem Jahr schon wieder verlassen – was er selbst gar nicht wollte? “Ich wollte bleiben”, verriet er “DAZN” Jahre später, “doch es lag nicht in meinen Händen”. Wegen mehr Ruhm, wegen mehr Macht und wegen mehr Geld. Ronaldo war eine Investition, eine heiße Aktie – und noch ein halbes Kind.
Der FCB stellte sich schließlich auch selbst ein Bein, wollte nach nur einer Saison unbedingt einen neuen Vertrag aufsetzen: Zehn Jahre sollte die revolutionäre Nummer neun für Barca spielen. Die Katalanen ließen sich von ihrem Optimismus blenden und wurden – da ging es ihnen wie Ronaldos Gegenspielern – von den hohen Forderungen aus dessen Lager auf dem falschen Fuß erwischt. Plötzlich war Barca raus, und Inter Mailand, bedürftig und willig, zog die teure Ausstiegsklausel. Der nächste Weltrekord-Transfer. Ronaldo selbst wollte eigentlich nur spielen, das tat er nun eben in der Serie A.
Angeblich hatte auch Ronaldos Über-Sponsor Nike darauf gedrängt, dass die Zelte in Barcelona schon nach einem Jahr abgerissen werden – in der Serie A, der damals besten Liga der Welt, ließ sich nämlich noch mehr Geld umsetzen. Der perfide Plan geht erst einmal auf. Dank eines hochbegabten Menschen, der wie eine Maschine zu funktionieren hatte, deren körperliche und geistige Gesundheit lediglich in Toren und Millionen gemessen wurde.
Superstürmer 4.0, ein Produkt branchenfremder Finanzschergen. Ein im Fußball nie dagewesenes Vermarktungsprojekt. Aber auch der Spieler Ronaldo war seiner Zeit voraus: Weder die Verteidigungsreihen noch der Schutz durch die Schiedsrichter waren bereit für die Antwort des Fußballs auf Michael Jordan.
Natürlich ist unklar, ob Ronaldos Karriere anders verlaufen wäre, wenn er in Barcelona verlängert hätte. Denn schon dort hatten Journalisten gewarnt, dass es nur noch eine Frage der Zeit sei, bis die große Show, bis das große Abenteuer Ronaldo ein jähes Ende finden würde. Zu sehr häuften sich die üblen Tritte verzweifelter Gegenspieler, die sich einfach nicht anders zu helfen wussten. Die Patellasehne hatte sich schon in Eindhoven gemeldet, als der eigentlich schlaksige Junge auf einmal wie ein eleganterer Ivan Drago über den Rasen dominierte. Ronaldo bröckelt. Die Zeitbombe tickt.
Bereits in seiner ersten Saison in der rauen Serie A verletzt sich “Il Fenomeno” mittelschwer, da ist er gerade 21 Jahre jung. Gleichzeitig führt er einen permanenten psychischen Zweikampf. Wie ein Besessener bewegt sich der schüchterne Brasilianer über den Platz, sobald er diesen jedoch verlässt, spürt Ronaldo den Druck. Vor dem WM-Finale 1998 muss Zimmerkollege Roberto Carlos dem Hoffnungsträger einer ganzen Nation nach einem Zusammenbruch die Zunge aus dem Hals ziehen. Stunden später läuft die Marke “R9” im Endspiel trotzdem auf. Wieder soll Nike ein Machtwort gesprochen haben. Es geht um ihn, aber es geht nicht um ihn.

Am 21. November 1999, das Knie resigniert an einem windigen Herbstsonntag in San Siro, ist der Weg zu Ende. Auch wenn das womöglich beeindruckendste Comeback der Fußball-Geschichte 31 Monate später damit endet, dass Oliver Kahn mit starrem Blick am Torpfosten lehnt. Ronaldo war zwar wieder da, das Phänomen aber kehrte nicht mehr zurück.
Was der dreimalige Weltfußballer seiner Kundschaft bereits in jungen Jahren geboten hatte, war so sensationell, dass noch lange Zeit davon geschwärmt werden wird. Die traurige Wahrheit ist aber, dass sich sein ganzes Potenzial nie vollständig entfalten konnte. Ronaldo – getrieben, aber nicht unterstützt – wurde regelrecht verheizt.
Mittlerweile sind Profifußballer weitaus besser auf Kälte, Kalkül und alle Arten von Druck im modernen Business vorbereitet. Einen anfänglichen Ausreißer muss es für solche Entwicklungen wohl immer geben. Der den Weg ebnet, der aber auch einen hohen Preis dafür zahlt.
Obwohl manche Aspekte längst nächste Dimensionen erreicht haben, bleibt Ronaldos Fall einzigartig. Er war zu früh zu groß. Er musste herhalten als Einzelner, als nächstes Level, als neuer Markt, als bis dato größtes Produkt. Herhalten bis hin zum Spott über sein auch krankheitsbedingtes Gewicht.
Ronaldo – also der Fußballer, nicht das Produkt – wurde trotzdem zur Ikone. Ganz gleich, ob er unterm Strich auch ein tragisches Bauernopfer war, das eine Epoche im Fußballzirkus einläuten musste, in der der Fußball nicht mehr unangefochten an erster Stelle steht. Hätte man den mal einfach nur kicken lassen. Was Ronaldo dennoch daraus gemacht hat, ist wahrscheinlich noch verrückter als das, was mit ihm gemacht wurde.