Ljupko Petrovic schloss die Tür von innen. Sieben seiner Spieler hatte Roter Sterns Trainer versammelt, wenige Stunden, bevor sie das größte Spiel ihres Lebens bestreiten sollten: das Landesmeisterfinale 1991. Ihre Augen starrten gebannt nach vorne. Videoanalyse.
Sinisa Mihajlovic war einer dieser sieben Spieler, denen einige Szenen des favorisierten Finalgegners Olympique Marseille vorgespielt wurden, ehe sie die klare und deutliche Anweisung bekamen: “Wenn ihr den Ball habt, gebt ihn ihnen.” Jetzt starrten die Augen erst recht.
“Ich glaube, dass es das langweiligste Finale in der Geschichte des Europapokals war”, sollte Mihajlovic später zugeben, als auch er zwischenzeitlich erkannt hatte, “dass sie erfahrener und wir fast alle Anfang 20 waren. Wären wir offensiv in dieses Spiel gegangen, hätten wir vielleicht verloren.”
Landesweites “Scouting”
Fünf Jahre zuvor waren Spielerlegende Dragan Dzajic und der ehemalige Basketballer Vladimir Cvetkovic bei “Crvena Zvezda” sehr wohl in die Offensive gegangen. Bis dahin hatte Roter Stern hauptsächlich dank seiner Jugendarbeit nationale Erfolge gefeiert, die ihn auch auf der internationalen Landkarte platzierten.
Aber bis dahin war Belgrad im Kampf gegen die europäischen Schwergewichte auch regelmäßig zum personifizierten Erst- oder Zweitrunden-Aus verkommen. Mit dem Erreichen des UEFA-Cup-Endspiels 1979 gegen Borussia Mönchengladbach lag die Ausnahme außerdem bereits ein wenig zurück, sodass Dzajic und Cvetkovic 1986 – Steaua Bukarest hatte gerade den Europapokal der Landesmeister gewonnen – aktiv umdachten.

Die größten Talente Jugoslawiens, ob Serben, Kroaten, Bosnier oder Montenegriner, sollten künftig für den Roten Stern spielen und ihn auch international wettbewerbsfähig machen. 1987, nach drei verpassten Meisterschaften, schmiedeten die Verantwortlichen einen konkreten Plan. Einen Fünfjahresplan. In spätestens fünf Jahren sollte Roter Stern Belgrad Europapokalsieger sein.
Eine außergewöhnliche Generation von Talenten – im gleichen Jahr sollte Jugoslawien die U-20-WM gewinnen – fütterte Dzajics Plan. Mit Dragan Stojkovic war Jugoslawiens Jahrhunderttalent aus Nis gekommen, Robert Prosinecki aus Zagreb, Dejan Savicevic aus Podgorica, Darko Pancev aus Skopje, Sinisa Mihajlovic aus Novi Sad oder Vladimir Jugovic aus dem eigenen Nachwuchs folgten. Eine große Mannschaft wuchs zusammen.
Der Nebel rettet Milan
Einzig die Trainer fluktuierten, weil der gewünschte Erfolg noch ausblieb. Zwar hatte der Rote Stern nun beinahe ein Abo auf die jugoslawische Meisterschaft, doch im Europapokal kam immer irgendetwas dazwischen. Manchmal sogar höhere Gewalten.
1988/89 etwa waren die Jugoslawen drauf und dran gewesen, das große Milan des Arrigo Sacchi aus dem Landesmeister-Cup zu werfen, als sich der berüchtigte Belgrader Nebel einmischte und die Rossoneri im unter zweifelhaften Umständen bei 0:0 begonnenen Wiederholungsspiel mit zwei blauen Augen davonkamen.
1990/91, im vierten der fünf anvisierten Jahre, durfte sich dann Ljupko Petrovic auf der Trainerbank versuchen. Der Mann, dem es mit Vojvodina als einzigem Coach gelungen war, Crvena Zvezda in diesen Jahren eine Meisterschaft abzuluchsen. Ob ihm angesichts der steigenden politischen Spannungen schon klar war, dass er womöglich nur diese eine Chance hatte?
Ohne Anführer Stojkovic, der die Geduld verloren und Belgrad nach seiner starken WM 1990 in Richtung Marseille verlassen hatte, startete der Rote Stern im Landesmeister-Cup gegen Ottmar Hitzfelds Grasshoppers aus Zürich. Das 1:1 im Hinspiel war noch etwas holprig, das 4:1 im Rückspiel der Anfang einer großen Europapokalsaison.

Und so trug es sich zu, dass Walter Smith, Co-Trainer der Glasgow Rangers, vor dem Zweitrunden-Duell nach Belgrad reiste, um den kommenden Gegner mit eigenen Augen zu sehen. Seinem Chef Graeme Souness soll er zunächst nur zweieinhalb Worte mitgebracht haben: “We’re fucked.”
Historisch und modern
Was Smith allerdings kaum zu sehen bekommen hatte, war eine Ausrichtung, die Trainer Petrovic geradezu perfektionierte: Zählten Prosinecki, Savicevic und Co. schon bei organisierterem Ballbesitz zu den besten Spielern ihrer Ära – davon durfte sich auch Dynamo Dresden überzeugen -, mussten sie gegen spielerisch unterlegene Gegner nur selten darauf zurückgreifen, eine der besten Kontermannschaften in der Geschichte des europäischen Fußballs zu sein.
Wie sehr dieser Belgrader Ansatz, sogar gepaart mit situativem Pressing und Gegenpressing im Mittelfeld, seiner Zeit voraus war, bekamen im Halbfinale spielstarke Bayern zu spüren, die im Rückspiel bei effizienterer Ausführung der Jugoslawen sogar unter die Räder hätten kommen können.
Schon im Hinspiel waren die Münchner dem größten Trumpf eines nicht nur individuell, sondern auch kollektiv außergewöhnlichen Teams gnadenlos ausgeliefert gewesen. Passgeber Prosinecki, Wunderdribbler Savicevic, Sprinter Binic und Vollstrecker Pancev schenkten dem großen FC Bayern beim 2:1-Auswärtssieg zwei mustergültige Konter ein.
Nach Klaus Augenthalers tragischem Eigentor in Belgrad, wobei sich Torwart Raimond Aumann diesen Schuh – durchaus mit Recht – immer anzog, schickte sich Roter Sterns Fünfjahresplan an, schon nach vier Jahren aufzugehen.
Bereits eine Woche vor dem Finale reiste die Mannschaft in den Endspielort Bari, wo sie abgeschottet von der Außenwelt, aber begleitet von einer gewaltigen Entourage um diverse Ex-Spieler und Personen der jugoslawischen Öffentlichkeit auf das Spiel der Spiele vorbereitet wurde.
Die Angst vor der eigenen Waffe – und ein entscheidender Vorteil
In letzter Instanz durch Petrovics Vorgabe, eines der potenziell attraktivsten Endspiele der Europapokalgeschichte durch geballte Destruktivität lahmzulegen. Der Plan war, das von Mogul Bernard Tapie zusammengestellte Marseiller Starensemble, wo Stojkovic lange Zeit nur auf der Bank saß, bloß nicht zum Kontern kommen zu lassen. Man wusste schließlich selbst, wie gefährlich das werden konnte.

Petrovic hatte aber noch eine weitere Intention: Sollte sein Team das 0:0 auch in der Verlängerung halten können, würde ein Elfmeterschießen winken – in dem Roter Stern einen entscheidenden Vorteil hatte. Zu dieser Zeit wurden Unentschieden in der jugoslawischen Liga stets vom Punkt entschieden, Elfmeterschießen waren für Crvena Zvezda also zur Routine geworden. Und was soll man sagen: Der Plan ging auf.
Alle fünf Belgrader Schützen trafen, auf der Gegenseite waren es nur drei. Dann durfte sich eine Mannschaft feiern lassen, die in dieser Besetzung nicht mehr gemeinsam auf dem Platz stehen würde.
Ausverkauf
Roter Stern Belgrad von 1991 ist bis heute die letzte osteuropäische Mannschaft, die die heutige Champions League gewinnen konnte – und, auch durch die politische Eskalation in Jugoslawien, das wahrscheinlich erste große Team, das (vor Ajax Amsterdam 1995) regelrecht “auseinandergekauft” wurde.
Prosinecki zu Real Madrid, Savicevic zu Milan, Pancev zu Inter, Mihajlovic zur Roma, Jugovic zu Sampdoria und Libero Belodedici nach Valencia. Alles innerhalb eines Jahres. Dafür hatte es kein Bosman-Urteil gebraucht.