Sein Vater war der beste Fußballspieler Italiens. Auf dem Weg, dessen Erbe gerecht zu werden, stand Sandro Mazzola einem großen Rivalen gegenüber.
Diese Momente entschädigten für vieles. Wenn die Stollen klackerten und die Gesänge auf den Rängen bis in den Kabinentrakt zu hören waren. Das bedeutete dann nämlich, dass Sandro und sein Bruder Ferruccio, in voller Montur, mit den großen Inter-Stars raus auf den Rasen von San Siro stolzieren durften.
Es war eine Geste des legendären Giuseppe Meazza, der bei den Nerazzurri in diesen Jahren manchmal auch Trainer, sowieso aber Identifikationsfigur auf Lebenszeit war – dessen Großmut allerdings nicht von ungefähr kam. Weil Sandro und Ferruccio nicht irgendwelche Kinder waren, denen ein tragisches Schicksal widerfahren war.
Sie waren die Söhne des Valentino Mazzola, der in den späten 1940er Jahren, in der unmittelbaren Nachkriegszeit, der beste Fußballer in ganz Italien war. Ein legitimer Nachfolger Meazzas und Anführer der großen AC Turin, des “Grande Torino”, das fünf Meisterschaften in Folge errang und als beste Mannschaft Europas galt. Alessandro, den alle nur Sandro riefen, war sein Erstgeborener.
Als Sandro drei und Ferruccio gerade erst ein Jahr alt war, gingen ihre Eltern getrennte Wege, was in erster Linie an Valentino lag. Nicht, dass er seine Frau betrogen hätte oder ans andere Ende der Welt gewechselt wäre. Beides hätte sie womöglich eher verkraften können als diese ständige Perfektion, die ihr berühmter Gatte in eigentlich allen Lebenslagen auch von ihr gefordert hatte. Vom Ehrgeiz getrieben.
Während Ferruccio bei ihr blieb, wuchs Sandro bei seinem Vater auf. Dort lernte er, was es bedeutete, pflichtbewusst und fleißig zu sein – bis Superga. Am 4. Mai 1949, auf dem Rückflug von einer Auswärtsreise, zerschellte das Grande Torino in dichtestem Nebel am Turiner Hausberg. Valentino wurde nur 30 Jahre alt, Sandro war zu diesem Zeitpunkt sechs. Und Halbwaise.

Nach dem Verlust der prägenden Figur in seinem Leben ging es zurück zur Mutter, doch für seinen Weg hatte sich der kleine Sandro bereits entschieden. “Meinen Frieden musste ich auf dem Platz finden”, erklärte er später einmal, “dort fühlte ich mich meinem Vater nahe”. Es sollte kein leichter Weg werden in Valentinos Geburtsstadt – bei Inter, an das Sandro sein Herz dank Meazzas Gutmütigkeit längst verloren hatte.
Recht früh brachte er es bei den Nerazzurri zum Profi, doch eine gewisse Skepsis blieb beim Namen Mazzola omnipräsent. Das ließ ihn auch Star-Trainer Helenio Herrera spüren, der Sandro 1961 zu einem wenig schmeichelhaften Debüt verhalf. Aus Protest gegen den italienischen Fußballverband stellte der Argentinier gegen Juve lediglich Jugendspieler auf, die mit 1:9 unter die Räder kamen. Für den Ehrentreffer zeichnete Mazzola verantwortlich, der vom Elfmeterpunkt die Verantwortung übernommen hatte. Beeindruckt hat das kaum einen.
“Als ich noch jung war, war es schwer für mich, weil jeder erwartete, dass ich so gut bin wie er”, thematisierte Sandro die ständigen Vergleiche mit seinem Vater. “Aber ich hatte nicht die Fähigkeiten, die er hatte.” Auch nicht die des Spaniers Luis Suarez, der Ballon-d’Or-Gewinner und in Herreras Mannschaft der Spielmacher war. Dieser Platz war schon mal vergeben. Kein Problem für Sandro, der im Umgang mit Widrigkeiten längst geübt war. Man hätte den Rechtsfuß wahrscheinlich überall aufstellen können.
Bei Inter, das sich bald ebenfalls des Zusatzes “Grande” erfreuen durfte, wurde es die Position des Halbstürmers. Für einen jungen Offensivspieler nicht leicht, der sich im Grande Torino wahrscheinlich wohler gefühlt hätte als im Catenaccio praktizierenden Grande Inter. Doch Sandro setzte sich durch. Als Antreiber, Arbeiter, auch als Gestalter. Und als Torjäger, sowohl in der Liga als auch im Europapokal wurde er mit Anfang 20 Torschützenkönig. Ein Totalfußballer wie der Papa, wenn auch auf etwas andere Art.
1964, Sandro war frische 21, gewann Inter erstmals den Henkelpott. Im Finale gegen Real Madrid, das 3:1 endete, avancierte er mit zwei sehenswerten Toren zum Matchwinner. Was für ein Triumph. Dass die Königlichen bereits in die Jahre gekommen waren, war sicherlich kein Nachteil gewesen – vor allem deshalb nicht, weil sie dadurch über ein umfassenderes Gedächtnis verfügten. “Ich habe einst gegen deinen Vater gespielt”, verriet der große Ferenc Puskas Sandro nach dem Schlusspfiff. “Du hast seinem Namen alle Ehre gemacht.”
Als Inter den Landesmeister-Pokal 1965 gleich noch mal gewann, spielte 16 Jahre nach Superga also erneut ein Mazzola in der besten europäischen Vereinsmannschaft. Auch wenn er immer noch “der Sohn von” war und für Anerkennung vermutlich mehr tun musste als andere Spieler, was sich unter anderem bei den Ballon-d’Or-Platzierungen bemerkbar machte.
Für zeitige Einberufungen in die italienische Nationalmannschaft hat es gereicht, für die er sich immer wieder mit einem anderen großen Mailänder duellieren musste: Gianni Rivera, genialer Gestalter von Stadtrivale Milan. Nicht nur aufgrund ihrer Vereinsfarben war es ein Duell, dessen Kontrahenten unterschiedlicher kaum hätten sein können. Während Mazzola dynamischer war, sich besser durchsetzen konnte, mehr Tore schoss und auch defensiv half, gingen ihm die Ästhetik und Brillanz ab, die den kreativeren Rivera zum Symbol des klassischen Spielmachers machten.
Rivera, der schon 1963 den Landesmeister-Cup gewonnen hatte, spielte oft; Mazzola, wegen seinen Fähigkeiten als Allrounder, spielte eigentlich immer. So etwa bei der WM 1966 in England, wo Sandro allerdings einen Rückschlag hinnehmen musste. Gipfelnd in der sensationellen Niederlage gegen Nordkorea schieden die Italiener bereits nach der Vorrunde aus. Auch Mazzola wurde bei ihrer Rückkehr mit Tomaten beworfen.
Doch wie einst Vater Valentino – wenn es auf dem Platz nicht laufen wollte – demonstrativ die Ärmel hochkrempelte, schlug Sohnemann Sandro ebenfalls eindrucksvoll zurück. Einmal mehr spielte Mazzola statt Rivera, als Italien 1968 im eigenen Land Europameister wurde. Noch im gleichen Jahr gründete der Leitwolf die italienische Spielergewerkschaft. Allmählich kam er seinem Helden nahe.
Juve-Präsident Giampiero Boniperti, ein großer Bewunderer Valentinos, versuchte in dieser Zeit fast alles, um Sandro zur Alten Dame zu locken – was sogar beinahe geklappt hätte. “Dein Vater würde sich im Grab umdrehen”, schimpfte allerdings Mama Emilia, und damit war das Thema dann auch ziemlich schnell erledigt.
Ein anderes Thema beschäftigte die Fußballnation Italien bei der WM 1970 in Mexiko. Wer ist unser Spielmacher? Für Trainer Ferruccio Valcareggi konnte es nur einen geben, da ließ er nicht mit sich reden. Obwohl Rivera amtierender Ballon-d’Or-Sieger war, fiel seine Wahl schließlich auf Mazzola. Und obwohl die beiden Mailänder – anders als Günter Netzer und Wolfgang Overath – zuvor regelmäßig auch gemeinsam gespielt hatten, wechselte Valcareggi Rivera dann meistens für Mazzola ein – die berühmt-berüchtigte “Staffetta”. Nach dem 1:4 im Finale gegen Brasilien fragten sich viele: Wäre es nicht auch zu zweit gegangen?

Bei Inter war Sandro nach der WM in Suarez dann eine Art Rivalen los. Der neue, endlich “richtige” Spielmacher hieß Mazzola, der sich auch wegen seiner nachlassenden Dynamik in dieser Rolle zunehmend wohler fühlte und nun außerdem mehr Anerkennung erhielt. Nach vier Jahren Pause führte er die Nerazzurri 1971 wieder zum Scudetto, beim Ballon d’Or brachte das dem 29-Jährigen seine beste Platzierung ein – nur Johan Cruyff musste er sich geschlagen geben.
Jetzt war Mazzola endgültig der Kopf einer Mannschaft, die ein Jahr später sogar beinahe noch mal den Henkelpott gewonnen hätte. Endstation im Endspiel war dann wieder bei Cruyff und Ajax, hätte es aber auch schon einige Monate zuvor auf dem Bökelberg sein können. Das Weiterkommen rund um das legendäre “Büchsenwurfspiel”, in dem er Roberto Boninsegna zum Simulieren animiert haben soll, war kein Ruhmesblatt in der Laufbahn eines ansonsten sehr respektierten Sportlers.
Auch ohne weitere Rügen der Mutter verbrachte Sandro noch den Herbst seiner großen Karriere bei Inter. Als einer der immer seltener werdenden “One-Club-Men” ließ er es 1977, mit 34 Jahren, dann gut sein. Seine Abschiedsvorstellung war dem Rahmen angemessen, Pokalfinale gegen Milan. Ein letztes Mal gegen seinen großen Rivalen Rivera, ein letztes Mal die Frage “Er oder ich?”. Diesmal ließ er Gianni den Vortritt.