Das WM-Halbfinale 1958 zwischen Titelverteidiger Deutschland und Gastgeber Schweden ging als “Skandalspiel” in die deutsche Fußballgeschichte ein. Zu Recht? Und wie stark war das DFB-Team eigentlich vier Jahre nach Bern?
Bei der WM 1958 in Schweden trat Deutschland – erstmals – als Titelverteidiger an. Die Mannschaft, noch immer trainiert von Sepp Herberger, schaffte es bis ins Halbfinale gegen Gastgeber Schweden, schied dort jedoch unter umstrittenen Umständen aus – weshalb die Niederlage in der Heimat nur schwer verdaulich war.
Das Ausscheiden wurde zum “Skandalspiel” deklariert, was durch das Aufwärmen der deutschen Nazi-Vergangenheit im Vorfeld begann, mit den schwedischen Fans weiterging und über einen Platzverweis oder ein Foul an Fritz Walter beim Schiedsrichter endete. Wobei, eigentlich entstand erst hinterher eine jahrelange Feindschaft. Aber von vorne.
Schweden: Svensson – Bergmark, Gustavsson, Axbom – Börjesson, Parling – Gren, Liedholm – Hamrin, Simonsson, Skoglund.
Deutschland: Herkenrath – Stollenwerk, Erhardt, Juskowiak – Eckel, Szymaniak – Walter, Schäfer – Rahn, Seeler, Cieslarczyk.
Tore: 0:1 Schäfer (24.), 1:1 Skoglund (33.), 2:1 Gren (81.), 3:1 Hamrin (87.).
Platzverweis: Juskowiak (59.)
1. Was passierte nach 1954?
Als Favorit war Deutschland 1954 bekanntlich nicht Weltmeister geworden, vielmehr galt der “erste Stern” für den DFB als sportliche Sensation. Und auch wenn die Wahrheit mal wieder in der Mitte liegt, bekleckerte sich die deutsche Mannschaft nach dem Titel nicht gerade mit Ruhm.
Die ersten drei Länderspiele nach dem “Wunder von Bern” gingen verloren, 1955 und 1956 wurden insgesamt nur vier von 14 Partien gewonnen – bei neun Niederlagen. Darüber hinaus war Herbergers Amateur-Nationalmannschaft beim olympischen Fußballturnier 1956 schon nach dem ersten Spiel gegen die Sowjetunion ausgeschieden.
Erst als Herberger vor allem die Verteidigung personell neu aufgestellt und etabliert hatte, lautete die Bilanz 1957 und 1958 sechs Siege bei zwei Niederlagen – pünktlich zum Weltturnier war Deutschland wieder weitgehend in Form.
2. Die Mannschaft
Konnte Deutschland seinen WM-Titel auf der größten Bühne vier Jahre später bestätigen? Aus dem Finale von 1954 standen gegen Schweden tatsächlich nur noch vier Spieler auf dem Rasen: Fritz Walter, Horst Eckel, Hans Schäfer und Helmut Rahn. Der “Boss” war in Schweden sogar mindestens so stark drauf wie in der Schweiz, schoss sechs WM-Tore (in sechs Spielen) statt deren vier (in vier Spielen) im Jahr 1954.
Darüber hinaus waren mit Horst Szymaniak, Uwe Seeler oder dem überragenden Verteidiger Herbert Erhardt starke Spieler nachgerückt. Das Erreichen des Halbfinals bestätigte, dass der DFB sich in diesen Jahren durchaus mit der Weltspitze messen konnte. Zumindest wenn es darauf ankam.
3. Eine Fußballmacht
Aus heutiger Sicht mag ein WM-Halbfinalgegner Schweden, selbst im eigenen Land, schlagbar wirken. Doch die damalige Generation war wahrscheinlich die beste, die die “Tre Kronor” je hatten. Auch wenn die Schweden selbst zunächst große Bedenken hatten, ob durch das Eingliedern ihrer Serie-A-Legionäre nicht die Teamchemie auf der Strecke bleibt. Das blieb sie nicht.
Besonders die Offensive war Weltklasse, wo noch immer die Routiniers Nils Liedholm und Gunnar Gren die Fäden zogen. Außergewöhnlich spielte allerdings die brandgefährliche Flügelzange Lennart Skoglund (trickreich, links) und Kurt Hamrin (pfeilschnell, rechts).
“Nur wem es gelingt, die beiden Außenstürmer zu halten, hat gegen diese Mannschaft eine Chance”, warnte der “kicker”. Und angeführt von Skoglund und Hamrin legten die Gastgeber auch direkt los wie die Feuerwehr. Es sollte der deutschen Nationalmannschaft, die etwas später größtenteils aktiver und phasenweise besser war, nur bedingt gelingen.
4. Andere Zeiten, andere Sitten
Vier Anpeitscher mit Megaphon und Flagge, die dem Ullevi-Stadion zu Göteborg ordentlich einheizten. 1958 war derartige Unterstützung auf dieser Bühne noch weitgehend unbekannt, in Deutschland machte man auch die frenetische Anfeuerung des Publikums für die Niederlage verantwortlich. “Ich dachte nur an das Spiel, da konnte schreien und pfeifen, wer wollte”, meinte zwar etwa Helmut Rahn; Uwe Seeler befand, “dass das Publikum uns nicht beeinflusst hat – aber den Schiedsrichter schon”. Dazu später mehr.
Aus heutiger Sicht wirken – so ist es in der Übertragung zumindest zu hören – die nur gelegentlichen Schlacht- und “Heja, Heja, Heja”-Rufe beinahe niedlich. Doch auch wenn von einer feindseligen Atmosphäre während des Spiels nicht wirklich die Rede sein kann, war das damals eben zumindest auffallend ungewöhnlich.
5. Seelers große Chance(n)
Er spielte bei vier Weltmeisterschafts-Endrunden und wurde doch nie Weltmeister: Uwe Seeler, der es im Olymp des deutschen Fußballs ansonsten wohl noch höher geschafft hätte. Bei seiner ersten WM, 1958 in Schweden, hätte der spielstarke Mittelstürmer im Halbfinale zum Helden werden können. Doch der Hamburger ließ – einmal beim Stand von 0:0, einmal beim Stand von 1:1 – zwei große Chancen ungenutzt.
6. Für “immer” rot
Der wohl größte Skandal im Skandalspiel: Der Platzverweis für den deutschen Verteidiger Erich Juskowiak – für ein Revanchefoul nach einer Stunde an Hamrin, der zuerst nachgetreten hatte und ebenso hätte des Feldes verwiesen werden müssen. Doch es traf nur “Jus”, der sich zunächst empört weigerte, den Rasen zu verlassen. Schließlich mussten ihn die Routiniers Walter und Schäfer besänftigen, sie geleiteten ihren Kollegen vom Platz.
Auf Besänftigung von Trainer Herberger konnte Juskowiak indes lange warten, solch eine Unsportlichkeit auf größter Bühne verzieh der Weltmeister-Coach nicht. “Das Schlimme damals war, dass nach dem Eklat keiner mehr mit mir redete”, erinnerte sich der Übeltäter einmal. “Abends beim Bankett wurde es geradezu peinlich, weil ausgerechnet das Schweden-Spiel mein 25. Länderspiel war. Mit eisigem Lächeln überreichte man mir die silberne Ehrennadel. Es war wie ein Begräbnis.”
Ursprünglich hatte Herberger Juskowiak sogar mitgeteilt, dass er ihn aufgrund seiner Verfehlung von nun an nicht mehr in der Nationalmannschaft einsetzen werde: “Man fliegt nicht vom Platz.” Nach einer Entschuldigung revidierte der Bundestrainer seine Entscheidung aber und verhalf “Jus” – von Fortuna Düsseldorf – noch zu sechs weiteren Länderspielen.

7. Die Rache für Bern?
Nicht nur die Szene um Hamrin und Juskowiak – aber vor allem – sorgte im deutschen Lager nach der Niederlage für Unmut. Vor allem in Richtung des Schiedsrichters. Mit Istvan Zsolt war nämlich ausgerechnet ein Ungar als Unparteiischer angesetzt worden, dem Rache für die ungarische Final-Niederlage gegen Deutschland vier Jahre zuvor vorgeworfen wurde.
Gänzlich unverdächtig war dessen Auftritt unterm Strich in der Tat nicht. So verweigerte Zsolt Rahn beim Stand von 0:0 einen klaren Elfmeter und ahndete wohl ein Handspiel von Liedholm vor dem Ausgleich durch Skoglund nicht. Neben Juskowiak auch Hamrin des Feldes zu verweisen, wäre zwingend gewesen.
8. Der große Fritz tritt ab
Das Halbfinale gegen Schweden war das letzte von 61 Länderspielen des großen Fritz Walter – das aber nur bedingt freiwillig. Gegenspieler Sigvard Parling hatte den Weltmeister-Kapitän von 1954 – wenn auch ohne erkennbar böse Absicht – nach 75 Minuten so schwer gefoult, dass dieser vom Rasen transportiert werden musste und schließlich das Spiel um Platz drei gegen Frankreich nicht mehr absolvieren konnte.
Gegen Schweden, Auswechslungen gab es damals noch nicht, humpelte der 37-jährige Walter nach einer mehrminütigen Behandlungspause tatsächlich auf den Rasen zurück, konnte jedoch nicht mehr effektiv am Spielgeschehen teilnehmen.
9. Unterzahl ungleich Unterzahl
Ab der 60. Minute ging es dahin, könnte man meinen. Ohne Juskowiak war Deutschland ein Mann weniger – in solch einem Halbfinale auf Augenhöhe der entscheidende Nackenschlag. Von wegen. Zehn gegen elf ließ sich das DFB-Team dank seiner Spielstärke kaum einen Leistungsabfall anmerken, Juskowiaks Fehlen machte sich kaum bemerkbar. Es blieb ausgeglichen, es blieb beim 1:1.
Erst als auch Walter kein Faktor mehr sein konnte und Deutschland quasi zu neunt spielen musste, kippte die Partie endgültig auf die Seite der Schweden, die die beiden Tore zum 2:1 und 3:1 erst in den letzten Minuten schossen.
10. Zerrüttetes Verhältnis
Deutsche, das waren immer noch Nazis – und die italienischen Legionäre der Schweden, damals ein Schimpfwort, moralisch verkommen. War das Verhältnis von Schweden und Deutschland vor dem Spiel noch hauptsächlich aus den Zeitungen befeuert worden, fand dessen Zerrüttung hinterher – vor allem in Deutschland – quasi in allen Gesellschaftsebenen statt.
Die “Schlacht von Göteborg”, dabei spielten die Schweden gar nicht so hart, bewegte etwa den umstrittenen DFB-Präsident Peco Bauwens zu der Aussage, “nie wieder dieses Land betreten, nie wieder gegen Schweden spielen” zu wollen. Darüber hinaus wurden deutsche Urlauber in Schweden angefeindet und umgekehrt, während in Deutschland als prompte Reaktion Schwedenteller von der Speisekarte verschwanden, Schweden für Bier mehr Geld zahlen mussten oder Läden bis hin zu Etablissements auf St. Pauli “Schweden unerwünscht”-Schilder aufhängten.
Erst fünfeinhalb Jahre später gab es das nächste Aufeinandertreffen beider Nationalmannschaften, deren recht einseitige Feindschaft wohl erst final abklang, als Deutschland die Zwischenrunden-Partie bei seiner Heim-WM 1974 mit 4:2 gewann.