SOMMERMÄRCHEN. Noch immer

Vor 15 Jahren begann die WM 2006 in Deutschland. Deren Besonderheit von keinem Skandal beschmutzt werden kann.

Das kühle Wasser der Echaz wusch den Sand des Festivalgeländes von unseren Füßen, als Cristiano Ronaldo wild gestikulierend auf einer übergroßen Leinwand die rote Karte für seinen Vereinskameraden Wayne Rooney forderte.

Später des Abends verschluckten wir uns beinahe am Eistee Pfirsich beim Anblick der weit aufgerissenen Augen des von Thierry Henry bezwungenen Dida, weil sich Roberto Carlos lieber die Stutzen gerichtet hatte. Der sanfte Sommerwind auf dem Heimweg durch die Nacht vermittelte einem das Gefühl, der Mittelpunkt der Welt zu sein.

Im Sommer 2006 war Deutschland der Mittelpunkt der Fußballwelt, war “die Welt zu Gast bei Freunden”. Und das war sie auch noch aus heutiger Perspektive, wo Franz Beckenbauer nicht mehr dafür gedankt wird, Jens Lehmann sich nicht nur einmal verzettelt hat und man eher noch “Zeit, dass sich was dreht” von Herbert Grönemeyer hört, weil sich “Dieser Weg” von Xavier Naidoo zugegeben nicht mehr ganz so richtig anfühlt.

Bei aller berechtigter Kritik, die das sogenannte “Sommermärchen” auf organisatorischer und vielleicht selbst auf sportlicher Ebene über die Jahre zunehmend entzaubert hat, gilt es eines festzuhalten: Die Protagonisten der WM im eigenen Land waren nicht Beckenbauer, Lehmann und Naidoo, sondern zum Beispiel meine Kumpels, ich und Tommy Vercetti, der bei “GTA Vice City” aus einem Lamborghini Diablo heraus Drogendealer erschoss, während Luca Toni ein paar Meter weiter gegen die Ukraine traf.

Rede ich heute mit Menschen über diese WM, die damals Kinder, Jugendliche oder bereits erwachsen waren, empfinden alle noch immer, dass die Welt 2006 wirklich zu Gast bei Freunden war. In den Straßen sah man alle Trikots, in denen manchmal gar nicht die “passenden” Landsleute steckten; über dem kroatischen Imbiss hingen nicht nur kroatische Flaggen, sondern die aller Nationen. Auch über dem Dönerladen, obwohl sich die Türkei gar nicht qualifiziert hatte.

In diesen vier Wochen, in denen Deutschland das ehrlich gut hinbekommen hat, lagen auch ohne nostalgische Verklärungen der Vergangenheit – ja, die Niederlage gegen Italien war verdient – Herzlichkeit, Ungezwungenheit und Gleichgesinntheit in der Luft, die meistens noch nicht einmal von den unweigerlich entzweienden Ergebnissen der Spiele gestört werden konnten.

Eine Atmosphäre, wie ich sie vorher nicht und nachher nicht erlebt habe. Und genau das hat die WM 2006 in Deutschland ausgemacht. Deshalb ist sie das “Sommermärchen”. Noch immer.

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