Warum das inflationär benutzte Schlagwort nicht exakt das ist, was viele sich darunter vorstellen; wie es sich vom (Schweizer) Abwehrriegel abgrenzt; wer seine Ur-Väter sind – und in welcher Formation der eigentliche Catenaccio praktiziert wird:
Ach ja, die Italiener.
Auch noch 2020 assoziieren viele mit einer der Fußball-Begrifflichkeiten schlechthin ein stoisches Mauern, also das berühmt-berüchtigte “Parken des Busses”. Diese weit verbreitete Annahme trifft allerdings nur zu Teilen zu. Die Referenz des “Grande Inter” unter Trainer-Ikone Helenio Herrera in den 1960er Jahren ist hingegen richtig, erfolgreicher war der Catenaccio nie. Seine Ursprünge liegen allerdings nicht in Italien.
Lange vor Herrera sind diese einem anderen prägenden Taktiker zuzuschreiben: dem Österreicher Karl Rappan, der sich als Trainer von Grasshopper Zürich, Servette Genf oder der Schweizer Nationalmannschaft in den 1930er Jahren einen Namen machte. Mit einer damals ungewohnten Grundausrichtung, die nicht zwingend im Sinne des begeisterten Betrachters war: “Verrou” (dt. Riegel), aus dem französischsprachigen Teil der Eidgenossenschaft, oder bald fachspezifisch “Schweizer Abwehrriegel” genannt.
Der Ursprung ist eine Art 5-2-3
Rappan nahm sich die zu dieser Zeit gängige und sehr offensive 2-3-5-Formation, zog beide Außenläufer sowie beide Halbstürmer zurück und gab dem Mittelläufer eine rein defensive Rolle. Es entstand in etwa ein 5-2-3, genauer gesagt ein 1-3-1-2-3, da ein ursprünglicher Verteidiger, der keinen direkten Gegenspieler mehr hatte, nun eine Frühform des defensiven Liberos darstellte. Libero und defensiver Mittelfeldspieler, die die drei Verteidiger von hinten wie von vorne verstärkten, verschoben immer in Richtung Ball. Wie ein Riegel eben.
Deutlich mehr Verteidiger und Verteidigung, als damals üblich war: Besonders der italienische Fußball fand an Rappans Riegel, der eine gewisse Sicherheit und Kontrolle versprach, großen Gefallen. Nereo Rocco (später u. a. AC Mailand) gilt als italienischer Uraufführer und erreichte mit verhältnismäßig schwächeren Vereinen, die er den Riegel spielen ließ, nennenswerte Erfolge. Nachahmer ließen daher nicht lange auf sich warten.
Riegel ungleich Catenaccio
Ja, Begrifflichkeiten machen einen Unterschied. “Catenaccio” bedeutet eher Bolzen als Riegel, klingt also (vielleicht) nach einem etwas beweglicheren Objekt. Unterschiedliche italienische Trainer entwickelten den “Schweizer Riegel” unterschiedlich weiter – am erfolgreichsten war Inter Mailands argentinischer Star-Trainer Helenio Herrera, dessen Interpretation – die vielleicht sogar offensivste – als “Catenaccio” weltberühmt wurde.
Neben mehreren nationalen Meisterschaften stemmten die Nerazzurri auf diese Weise 1964 und 1965 souverän den Henkelpott. Schlüsselspieler und gewissermaßen Superstar in Herreras Catenaccio war Giacinto Facchetti, ein 1,90 Meter großer gelernter Stürmer, der zum linken offensiven Außenverteidiger umgeschult worden war.

Herreras Auslegung des Riegels, der Catenaccio, beinhaltete in der taktischen Grundformation nur zwei statt drei Verteidiger, ein Libero blieb dahinter. Links ergänzte ein sehr offensiv ausgerichteter Außenverteidiger (Facchetti), rechts ein omnipräsenter Flügelspieler – grob vergleichbar mit einer heute zeitgemäßen “mal Dreier-, mal Fünferkette”. Mit einer Portion Asymmetrie.
Will man den Catenaccio unbedingt festnageln, wechselten sich auf dem Feld in etwa ein 4-4-2/5-3-2 gegen den und eine Art 3-4-3 mit dem Ball ab. Herreras System war definitiv ein stabiles, aber wesentlich teilnehmender und variabler als das ursprüngliche von Rappan.
Lauern statt mauern
Denn nur gegen den Ball halfen ein defensiver sowie zwei offensivere Mittelfeldspieler mit, die Räume massiv zu verdichten. Durch eine sehr passive Grundordnung bei gegnerischem Ballbesitz sollte der Kontrahent zum weiten Aufrücken gezwungen werden, sodass die Räume in dessen Rücken gleichzeitig weit geöffnet wurden. Dann setzte der ebenso wichtige zweite Teil des Catenaccio ein: das blitzschnell umschaltende Konterspiel, mit voller Kapelle.
Nach Ballgewinn erfolgte eine möglichst rasche Überbrückung des Mittelfelds, bevorzugt über außen, wo insbesondere Facchetti zur Geltung kam – am Ende wurde in der Mitte vollstreckt. Lag ein Catenaccio praktizierendes Team allerdings in Front, wurde der destruktive Teil spürbar intensiviert. So viel ist sicherlich wahr.

Auch im Fußball – obwohl vieles irgendwann wiederkehrt – ist natürlich nichts für die Ewigkeit. Die 0:6-Klatsche Milans gegen Ajax Amsterdam im Europäischen Supercup 1973/74 schaufelte das vorübergehende Grab für diverse Varianten des Riegels durchaus mit, wobei deren Untergang zu großem Teil am Altern der zugehörigen italienischen Spielergeneration festzumachen war – während die niederländischen “Totalfußballer” ihren Zenit erreichten.
Und heute? Frankreich oder Atletico
Ein Catenaccio der Moderne wird wohl am besten in einem defensivstarken 4-2-2-2 oder 3-5-2 gespielt – wäre also ungefähr das, was Atletico Madrid schon gelegentlich unter Diego Simeone darbot.
Ausdauernd, konzentriert und überzahlskompakt in der Defensive; schnell, geradlinig und effizient in der Umschaltbewegung oder bei den (seltenen) eigenen Vorstößen. Im Prinzip somit auch das, worauf in verschiedenen Spielphasen in den vergangenen Jahren neben Underdogs auch talentierte Mannschaften (Frankreich 2018) setzen.
Es gibt den Catenaccio der 1960er Jahre, die offensivste Auslegung des einstigen Schweizer Riegels, also gewissermaßen auch heute noch.