WIE GUT WAR DIEGO MARADONA BEI DER WM 1986?

Maradona 1986 in Mexiko. Der Sommer, an dem sich seither jeder WM-Star messen lassen muss; der Sommer, auf dem der Status einer absoluten Ikone errichtet wurde. Wie viel Unterstützung hatte Diego damals wirklich?

Für viele bleibt er der Größte – dabei war Diego Maradona, der im November 2020 im Alter von 60 Jahren verstarb, gerade einmal 1,65 Meter hoch. Es genügte, um sich im Luftduell gegen Peter Shilton durchzusetzen bei dieser WM 1986 in Mexiko, die im Zusammenhang mit dem genialen Argentinier einfach nicht in Vergessenheit gerät. Diego, die Ein-Mann-Mannschaft: Auf diesem Sommer fußt sein Status als womöglich bester Fußballspieler, den die Welt bisher gesehen hat.

Oft stellen sich dabei – gerade den Leuten, die 1986 noch nicht geboren waren – zwei Fragen: Wie gut war Maradona damals wirklich? Und wie gut war die Mannschaft um ihn herum, der er angeblich im Alleingang den größten aller Titel gewann? Ich habe mir jede einzelne Maradona-Minute in Mexiko noch einmal zu Gemüte geführt. Und so viel schon mal vorab: Es hat Spaß gemacht.

Die Vorgeschichte

Diego Armando Maradona ist Argentiniens großer Fußballheld. Vor allem, weil er die Albiceleste so herausragend zu ihrem – Stand heute – letzten WM-Titel führte. Aber auch wegen der Art und Weise, wie er das getan hat.

Auf der Suche nach der Identität des typischen argentinischen Fußballspielers hatte der legendäre “El Grafico”-Journalist Borocoto 1928 einen “armen Jungen” beschrieben – “mit dreckigem Gesicht, funkelnden Augen und einem schelmischen Lachen. Auf dem Kopf trägt er eine Mähne, die gegen jeden Kamm rebelliert; seine Haltung charakteristisch, als würde er mit einem Ball aus Lumpen dribbeln”. Bei Diego passte diese Beschreibung wie Arsch auf Eimer. Das erfüllte Versprechen. Schon ohne Titel verkörperte er all das, was seine Landsleute liebten.

Nur ein Jahr vor Mexiko hatte sich Maradonas Heldenstatus allerdings noch längst nicht abgezeichnet. Bei Argentiniens erstem WM-Titel 1978, Diego war erst 17 gewesen, hatte Trainer Cesar Luis Menotti das Ausnahmetalent noch nicht verheizen wollen – 1982 wurde es dann als größter Spieler seit Pelé angekündigt. Unter den Argusaugen der gesamten Fußballwelt spielte Maradona in Spanien zwar deutlich besser, als es heute meistens zu lesen ist, doch die rote Karte für ein Revanchefoul gegen Brasilien verbildlichte sein Scheitern einfach zu gut.

‘Ich hätte da eine Idee’: Bilardo besucht Maradona, 1983. – Bild: infocielo.com

Nach der WM wechselte Diego nach Europa und sollte fast drei Jahre lang nicht mehr für die Nationalmannschaft auflaufen, was seine Popularität in der Heimat durchaus ins Wanken brachte – Lionel Messi dürfte das bekannt vorkommen. Doch diese Pause war auch Teil des Plans von Coach Carlos Bilardo, der von Menotti übernommen und 1986 in Mexiko eine klare Vision hatte.

Die Rolle

Maradona sollte in Bilardos Mannschaft der unangefochtene Mittelpunkt werden – und außerdem Kapitän, selbst wenn das mit dem Weltmeister-Spielführer von 1978, Daniel Passarella, Probleme gab. Passenderweise sollte der sich kurz vor der WM verletzen.

Pragmatiker Bilardo, längst kein Idealist wie Menotti, sah Argentiniens beste Chance nämlich darin, das Offensivspiel der Albiceleste komplett auf Maradona zuzuschneiden. Ganz bewusst gab es in dieser Mannschaft auf der einen Seite Maradona – und auf der anderen Seite ‘die Anderen’.

Während Diego, Spielmacher und zweite Spitze zugleich, möglichst maximale Freiheiten erhielt, hatten ‘die Anderen’ einen klaren Auftrag zu erfüllen: Haltet eurer Nummer 10 den Rücken frei. Bilardo, der sich perfektionistisch eigentlich um alles kümmerte (“Ich ordnete sogar ihren Frauen an, bei der Liebe oben zu liegen, damit sich die Jungs schonen konnten”), bereitete sie bestens darauf vor. In einer Art 3-5-1-1, wobei Stürmer Jorge Valdano alles andere als ein Fixpunkt war, erschuf der Trainer eine Einheit, die rigoros verteidigen, den Ball clever halten und ihn nach Ballverlusten schnell zurückgewinnen sollte. Was ziemlich gut funktionierte.

Gute Voraussetzungen für den von Defensivarbeit größtenteils befreiten Maradona, auf dessen Schultern eine umso anspruchsvollere Aufgabe lastete: Für die Offensive war er – als Organisator, Ballverteiler, Passgeber und Abschlussspieler – fast alleine verantwortlich. Im hinteren und mittleren Drittel war Unterstützung gewährleistet, im letzten hing es dann von ihm ab, der mal den Ball am Mittelkreis abholte, und in anderen Momenten Argentiniens vorderster Spieler war.

Olarticoechea etwas defensiver und weiter außen positioniert als der einrückende Giusti: Ungefähr so spielte Argentinien bei der WM 1986.

Vorrunde und Achtelfinale

Maradonas Turnier begann mit zwei kniffligen Herausforderungen. Zunächst mit als Auftaktgegner eigentlich angenehmen Südkoreanern, weniger angenehm waren allerdings ihre unzähligen Tritte gegen den überall auftauchenden Ausnahmekönner (in sieben Spielen 53-mal gefoult, WM-Rekord). Anschließend wartete Titelverteidiger Italien, der durch einen schmeichelhaften Handelfmeter früh in Führung ging und Diego mit seinem Neapolitaner Vereinskameraden Salvatore Bagni einen ekligen Manndecker verpasste.

Während Bilardos kompakter 3-5-Block defensiv und als Ballzirkulationsmaschine ziemlich schnell auf der Höhe war – auch gegen die Italiener -, schulterte Initiator Maradona seine umfangreiche Aufgabe überwiegend gut. Wenn auch durch manch Schludrigkeit noch ein bisschen Streuung drin war. Beim 3:1-Sieg über Südkorea bereitete Diego alle drei Tore vor – zweimal durch seine meist stark getretenen Standards. Gegen Italien, als sich Maradona auch defensiv engagierte, glänzte er dann nicht kreierend, sondern vollstreckend – mit einem feinen Abschluss aus schwierigem Winkel zum 1:1-Endstand. Bislang war auf ihn Verlass.

Gegen die Italiener war wahrscheinlich sogar mehr drin gewesen, Maradonas Sturmkollege Valdano hatte erstmals eine absolute Großchance ausgelassen. So machte Argentinien das Achtelfinal-Ticket im dritten Spiel gegen Bulgarien klar. Inzwischen war die Albiceleste in die Rolle eines ernstzunehmenden Mitfavoriten hineingewachsen, der im letzten Drittel aber fast komplett auf seine Nummer 10 sowie deren Tempoverschärfung und Entscheidungsfindung angewiesen war. Beim 2:0-Sieg lieferte ein immer stärker werdender Maradona zwei herrliche Vorlagen ab (ein Tor wegen Abseits einkassiert). Nach den ersten beiden Spielen, die in meinen Augen die Note 2,0 verdient gehabt hätten, roch sein dritter Auftritt bereits eher nach einer 1,5. Eine wirklich gute Vorrunde, so könnte man meinen, war aber noch irdisch gewesen.

Im Achtelfinale gegen Uruguay, einen argentinischen Angstgegner, ging es dann so langsam los. Dass aus Maradona dieser unaufhaltsame Überspieler wurde. Dass gelegentliches Zögern und punktueller Eigensinn, wenn es jeweils kontraproduktiv war, aus der Entscheidungsfindung verschwanden. Eingeläutet wurde diese Ankunft sinnbildlich durch einen fulminanten 30-Meter-Freistoß an die Querlatte, nachdem Valdano eine nächste Riesenchance vergeben hatte. Der Mittelstürmer von Real Madrid war Diego nur eine bedingte Hilfe – wohl auch, weil er sich nur selten effektiv im Neunerraum aufhielt.

Dass die offensive Unterstützung für einen immer dribbelwütigeren Maradona eine Wundertüte blieb, bewies auch Ergänzungsspieler Pedro Pasculli, der nach herausragender Vorarbeit von Maradona ebenfalls eine “Hundertprozentige” ungenutzt ließ – um schließlich doch das einzige Tor des Spiels zu erzielen, dessen Entstehung natürlich von Diego (Note 1,5) ausgegangen war. Argentiniens starke Defensive, die bei gegnerischen Kontern über außen die größten Schwächen offenbarte, war zwar nicht durchweg souverän, hatte aber auch das nötige Glück – und hielt vor allem dank ihrer numerischen Präsenz stand. Auch dank wichtiger Paraden von Keeper Nery Pumpido. Jetzt war die Bilardo-Elf auf Kurs.

England

Selbst Maradonas außergewöhnliche WM 1986 wäre ohne ein Spiel wohl nur die Hälfte wert. Argentiniens Viertelfinale gegen England zählt, auch wegen der Anspannung durch den Falkland-Krieg, zu den legendärsten Spielen der Fußballgeschichte. Das lag einmal mehr vor allem an Diego, der rüden Attacken von Terry Fenwick nach verhaltenem Beginn trotzte und Argentiniens Entwicklung zur offensiven Ein-Mann-Mannschaft zu Ende führte. Während Valdano und Mittelfeld-Allrounder Jorge Burruchaga ziemlich abgemeldet waren, kreierte eigentlich nur einer Chancen und Abschlüsse. Schon im ersten Durchgang griff Maradona phasenweise minütlich an, zu Beginn des zweiten fielen binnen vier Minuten “Hand Gottes” und “Tor des Jahrhunderts”.

Dicht an dicht zeugte Diego Armando Maradona (Note 1), dessen One-Touch-Aktionen angesichts der Konzentration auf ihn immer wichtiger und besser wurden, die beiden berühmtesten Tore seiner schillernden Karriere. Und beide waren, auf einem laut Gary Lineker furchtbaren Platz, definitiv nötig gewesen. Als die Engländer in der Schlussphase mit den eingewechselten Chris Waddle und vor allem John Barnes mit Tempo über außen kamen, geriet Bilardos 3-5-Block, der Ermüdungs- und Verwaltungsapparat, gehörig ins Wanken.

Nach dem späten Anschlusstreffer durch Lineker bekamen ‘die Anderen’ ein weiteres Gesicht: Der linke Flügelverteidiger Julio Olarticoechea, erst im Turnierverlauf in die Stammelf gerückt, verhinderte mit einer sensationellen Klärungsaktion gegen WM-Torschützenkönig Lineker das 2:2 und sicherte somit das Weiterkommen – wohlgemerkt nach einem Ballverlust Maradonas in der Vorwärtsbewegung. Dieser hatte zuvor zwar wieder aufgedreht und mustergültig für Joker Carlos Tapia vorbereitet. Doch der traf nur den Pfosten.

Belgien

Das Viertelfinale gegen England war Maradonas berühmtestes Spiel. Das Halbfinale gegen Belgien war vielleicht sein bestes. Wie euphorisiert von seiner Leistung, auch von seiner öffentlichen Wahrnehmung nach dem Spektakel gegen die Engländer, war Diego gegen die Belgier sofort da. Von Klärungsaktionen im eigenen bis hin zu eigens erzwungenen Abschlüssen im gegnerischen Strafraum überragte Maradona im Aztekenstadion als unheimlich kompletter Fußballer.

Auch die Balance seiner Aktionen – wann er dribbeln, passen, schießen musste – erreichte in dieser Partie ihren Höhepunkt. Argentinien machte wohl kollektiv sein bestes Offensiv-Spiel, und doch ragte Diego mit zwei weiteren Toren meilenweit heraus. Einen komplett selbst kreierten dritten Treffer und damit den Titel des WM-Torschützenkönigs verpasste er nur um Zentimeter. Dafür hatte die Defensive erstmals so richtig Probleme – und beim Stand von 0:0 Glück, dass falsche Abseits-Entscheidungen zwei Eins-gegen-eins-Situationen für die Belgier verhinderten. An diesem Tag wäre es vielleicht egal gewesen.

Das perfekte Spiel war es nicht, natürlich nicht. Wenn bei Diego in diesen Wochen mal Sand im Getriebe war, lag es meistens daran, dass er sich zu früh auf einen Pass festgelegt oder sich aber zu spät vom Ball getrennt hatte. Perfektion sollte man von niemandem erwarten, auch nicht von Maradona 1986 gegen Belgien – was seine Performance (Note 1*) vielleicht noch schöner macht. Wie auch ein weiterer Aussetzer Valdanos.

Womöglich Diegos persönliches Highlight: für ein paar Minuten mit seinem Idol Ricardo Bochini auf dem Feld zu stehen.

Das Finale

Seine schwächste Turnierleistung zeigte Maradona im Endspiel – was zu erklären ist. Auf einem inzwischen wirklich furchtbaren Rasen und angesichts einer doppelten Manndeckung (Lothar Matthäus plus der deutsche Verteidiger, der gerade am nächsten dran war) erkannte Diego schnell, dass er einerseits noch mehr mit einem Kontakt spielen und sich andererseits phasenweise aus dem Geschehen ziehen musste – und seine Gegenspieler aus den verdichteten Räumen. Gegen Deutschland überzeugte er gewissermaßen anders als zuvor, in einem Spiel, in dem Argentinien die Spielkontrolle weitaus vorsichtiger anstrebte. Die Mannschaft von Franz Beckenbauer konnte den kompakten Block der Albiceleste numerisch und in puncto Intensität erwidern, was der Bilardo-Elf sichtlich Respekt abnötigte. In einem Spiel, das Diego am Ball nur phasenweise prägen konnte, tat sich Argentiniens Offensive schwer.

Schließlich entwickelte sich das Finale auch zum Loben der Anderen. Libero José Luis Brown, der in Abwesenheit von Passarella ein gutes Turnier spielte, köpfte dank eines Fehlers von Toni Schumacher das 1:0 und schwang sich – deutlich angeschlagen – durch seine aufopferungsvolle Defensivleistung wohl zum Spieler des Spiels auf. Somit war das Endspiel Argentiniens einzige Partie, in der der beste Mann auf dem Platz nicht Maradona hieß (Note 2,5). Die Spritzigkeit kam ihm allmählich abhanden.

Obwohl er Spiel für Spiel zahlreiche Chancen zunichte gemacht hatte, veredelte auch Valdano sein Finale mit einem Tor – das 2:0 war immerhin sein vierter Treffer. Argentiniens eindeutige Nummer zwei war allerdings die Nummer sieben, Burruchaga. Ein regelrechter Tausendsassa, der hinter Netzer Maradona eine Art “Hacki” Wimmer gab. Es erschien nur fair, dass ihm – nach Deutschlands Aufholjagd (zwei wirklich schlecht verteidigte Ecken) – im Endspiel die Rolle des Siegtorschützen zuteil wurde.

Den entscheidenden Traumpass hatte Maradona geschlagen, der sich gegen die unvermeidlichen Deutschen nicht in die Riege der Final-Verlierer Puskas, Cruyff oder später Messi einreihen musste. Wenn es eng wurde, erhofften sich alle eine Reaktion von ihm, das zog sich eigentlich durch den gesamten Turnierverlauf. Es ist Diego stets gelungen. Anders als ein Tor im Finale, weil Schumacher seinen späten Freistoß noch aus dem Eck kratzen konnte.

Einer schwebt über allen. Diese berühmte Szene aus dem Finale war streng genommen Elfmeter. – Bild: thetimes.co.uk

Fazit

Diego Maradona bei der WM 1986 war ein einmaliger Genuss und ziemlich genau so gut, wie man sich das erzählt oder vorstellt. Einer der besten Fußballer, die es jemals gab, auf seinem absoluten Höhepunkt. Als Individualist womöglich potenter, als es jeder andere Spieler hätte sein können – zumindest in diesem Sommer in Mexiko.

Wenn man in einer Mannschaftssportart wie Fußball die Behauptung aufstellt, dass ein einzelner Spieler ein ganzes Team irgendwo hingeführt hätte, ist das ganz sachlich betrachtet natürlich unlogisch. Ohnehin würde man Bilardos Masterplan und den sehr soliden Auftritten einiger anderer Argentinier damit nicht gerecht werden. Wenn man diese Behauptung, die doch sowieso keiner im Wortsinne meint, aber unbedingt einmal loswerden möchte: Hier wäre sie wahrscheinlich am ehesten angebracht.

Denn in vielen entscheidenden Momenten war die Offensive der Albiceleste quasi eine One-Man-Show, fünf Tore und fünf Vorlagen – zehn direkte Beteiligungen an insgesamt 14 Treffern – belegen das. Zwar könnte man umgekehrt wohl auch behaupten, dass die Argentinier 1986 selbst ohne Maradona nicht verloren hätten. So stark waren sie als Verteidigungs- und Verwaltungsmannschaft vielleicht wirklich. Dass sie darüber hinaus aber auch gewonnen haben, dafür hat Diego beinahe im Alleingang gesorgt.

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