Die WM 1990 machte Lothar Matthäus, der heute seinen 60. Geburtstag feiert, zum Weltfußballer und zu einer Legende des deutschen Sports. Aber wie gut war der Weltmeisterkapitän in Italien wirklich? Eine ausführliche Analyse.
Was vorher geschah
“Diese Niederlage ist nicht unserer Auffassung vom Fußball geschuldet, sondern den nervlichen Problemen des Lothar Matthäus”, tobte Uli Hoeneß nach dem Landesmeister-Finale 1987, das seine lange Zeit überlegenen Bayern gegen den Außenseiter FC Porto noch aus der Hand gegeben hatten.
“Ja, hat er Recht gehabt”, konnte der Beschuldigte 33 Jahre später in einem YouTube-Plausch mit seinem damaligen Teamkollegen Andreas Brehme schmunzelnd zugeben. Ehe Brehme Hoeneß noch einmal nachdrücklich zustimmte.
In der Tat war Matthäus, der 1987 Kapitän der deutschen Nationalmannschaft sowie bereits 26 Jahre alt geworden war, die Enttäuschung des Spiels, vor dem der Franke nicht nur sinngemäß die Nacht seines Lebens angekündigt hatte.
Stellt sich die Frage: Was änderte sich in den drei folgenden Jahren, bis “Il Grande” die DFB-Auswahl schulterte und als Leitwolf zu ihrem dritten WM-Titel führte?
Die Entwicklung
Die eigentliche Enttäuschung bei Matthäus-Spielen der Jahre 1987 und 1988 hat rückblickend nichts mit seiner Qualität oder der seiner Leistungen zu tun. Vielmehr war es die Beschränktheit von Aufgabenfeld und Aktionsradius, die immer wieder fragwürdig erschien, wenn sich Matthäus als meist begabtester und modernster Spieler auf dem Platz auf seine immer gleichen Szenen in den immer gleichen Räumen konzentrierte.
Aus heutiger Sicht war dieser Spieler ein ziemlich klassischer Achter. Während der letzten beiden Jahre seiner ersten Etappe in München (1986/87 + 1987/88) hatte er sich längst über den Status eines Talents oder eines kommenden Hoffnungsträgers hinausentwickelt, und doch verfing Lothar sich regelmäßig in den Zwängen seiner Position – ob nun nach Vorgabe oder selbst auferlegt.
Matthäus marschierte in seinem rechten Halbraum stoisch auf und ab, wobei auffiel, dass er sich – als meist bester Balltreiber und Passspieler seiner Mannschaft – erstaunlich unregelmäßig in Ballnähe aufhielt. Und selbst wenn er in diesen Jahren sehr gute Leistungen erbrachte, verließ er dabei nur selten Räume und Rolle.
Ein interessantes Spiel war der Auftritt einer jungen deutschen Nationalmannschaft im Dezember 1987 bei Weltmeister Argentinien, als Kapitän Matthäus eine improvisierte Elf um mehrere international unerfahrene Teamkollegen vielleicht erstmals so richtig anführen musste. Konträr zu seinen Auftritten bei den Bayern tauchte Lothar in Argentinien in den unterschiedlichsten Rollen nahezu überall auf dem Feld auf, bekam all die Aspekte seiner Omnipräsenz aber noch nicht so sortiert, dass sein Team dadurch einen wirklichen Vorteil gehabt hätte. Dennoch dürfte dieses Spiel eine lehrreiche Erfahrung gewesen sein.

Vieles änderte sich, als Matthäus im Sommer 1988 zu Inter Mailand wechselte – eingekauft als künftiger Star einer der besten Mannschaften in der damals besten Liga der Welt. Auch sein Spielverhalten änderte sich in San Siro merklich: Selbst im Mittelfeld wurde bei Inter hinter Matthäus abgesichert, der sowohl zentraler als auch offensiver aufgeboten wurde und viel mehr Freiheiten bekam. Den dynamischen Arbeiter, der zwei Jahre zuvor im WM-Finale noch als Manndecker gegen Diego Maradona eingesetzt worden war, installierte Star-Trainer Giovanni Trapattoni als Spielmacher, als Nummer zehn.
Ohne all das, was er bereits konnte, gravierend zu vernachlässigen oder zu verlernen, entwickelte sich der Offensivspieler Matthäus schon in seiner ersten Saison in Mailand, in der Inter souverän die Meisterschaft gewann, spürbar weiter. Ein herausragendes Beispiel dafür ist Inters 6:0-Sieg in Bologna, als Lothar an fünf Treffern unmittelbar beteiligt war: Das 1:0 erzielte er per Elfmeter selbst; 3:0 und 4:0 leitete er mit einem cleveren Vertikalpass und einem entscheidenden Tempowechsel ein; das 5:0 bereitete er per Traumpass aus der eigenen Hälfte vor und das 6:0 kreierte er durch eine geistesgegenwärtig schnell ausgeführte Ecke. Der Ballgewinner, -treiber und -verteiler hatte sich zum kompletten Mittelfeldspieler entwickelt.
Eindrucksvoll offenbarte sich sein neues Level im Länderspiel gegen die Niederlande, speziell wenn man Lothar mit seinem Auftritt gegen den gleichen Gegner im verlorenen EM-Halbfinale zehn Monate zuvor vergleicht: War er damals, kurz vor seinem Wechsel nach Italien, als “einer von vielen” in seiner zurückhaltenden Rolle im rechten Mittelfeld nicht weiter aufgefallen, riss er im Frühjahr 1989, in zentralerer und ungleich aktiverer Rolle, das deutsche Spiel klar an sich. Matthäus zeigte sich und dirigierte, er kämpfte und kommunizierte.
Interessant war auch die Rezeption des deutschen Kapitäns im feindseligen De Kuip zu Rotterdam. Plötzlich stand Matthäus, der von der Nummer 8 auf die Nummer 10 gewechselt hatte, sinnbildlich für das DFB-Team. Auch die ziemlich exklusive Aufmerksamkeit der niederländischen Anfeindungen veranschaulichte, wie sehr sich sein Stellenwert im Weltfußball in nur einem Jahr verändert hatte.
Mit einem weitaus kompletteren Set an Fähigkeiten und dem Selbstbewusstsein, nun zu den etablierten Weltstars des Fußballs zu zählen, machte sich ein Lothar Matthäus, der nicht mehr mit dem von 1987 zu vergleichen war, als Aushängeschild der deutschen Nationalmannschaft im Sommer 1990 auf zur WM vor der eigenen Haustür.
Matthäus’ Rolle im Weltmeister-Team
Ein im Vergleich zur WM 1986 wesentlich mehr auf Defensive und Sicherheit bedachter Teamchef Franz Beckenbauer schickte seine Mannschaft durchgängig in einer 1-4-3-2-Grundformation (in Ballbesitz) auf den Platz. Libero Klaus Augenthaler fegte hinter zwei Manndeckern und zwei offensiven Außenverteidigern. Hinter der etatmäßigen Doppelspitze Rudi Völler/Jürgen Klinsmann agierten drei Mittelfeldspieler in etwa auf einer Linie, von denen Matthäus stets der zentrale und tiefste Part mit den meisten Defensivaufgaben war.
Die Anordnung der drei deutschen Mittelfeldspieler kann man sich wie das heute gängige “ein Sechser, zwei Achter” vorstellen, wobei die Wahrheit wohl zwischen dieser Variante und “ein zentraler Achter, zwei Zehner” liegt. Matthäus war ein Hybrid eines offensiven Sechsers und eines klassischen “Box-to-box”-Spielers.
Im Zehnerraum hielt er sich tatsächlich selten auf, als Zehner spielte er für Deutschland nicht. Lothar war der agile Mittelpunkt der Mannschaft, der als primärer Balltreiber und Spielmacher aus der Tiefe vorangehen sowie die Abwehr durch seine Schnelligkeit aus dem Mittelfeld unterstützen sollte. Am stärksten war er – mit dem wie gegen den Ball – wahrscheinlich im Umschaltspiel.

Das Jugoslawien-Spiel
Im Leben gibt es einige Dinge, die bei wiederholter Betrachtung etwas weniger toll waren, als man sie über all die Jahre abgespeichert hat. Lothar Matthäus im Auftaktspiel gegen Jugoslawien zählt nicht dazu.
Der Mythos der deutschen Weltmeistermannschaft von 1990, die eigentlich weder so mitreißend noch so gut spielte, wie sich das im Wiedervereinigungsjahr ins kollektive Gedächtnis eingebrannt hat, fußt vor allem auf dem Beginn und dem Ende des Turniers (dazu später mehr). Ähnliches gilt für Matthäus, der gegen Jugoslawien auch laut eigener Aussage das beste Spiel seiner Karriere machte. In der ersten von fünf aufeinanderfolgenden Partien, die die Deutschen im Mailänder Meazza-Stadion absolvierten, lieferte der damals 29-Jährige eine der besten individuellen Leistungen ab, die ich in der bisherigen Geschichte des Fußballs gesehen habe.
Seine Selbstsicherheit machte sich durch Mimik und Gestik schon bei der Seitenwahl bemerkbar, im Spiel war Matthäus der absolute Boss auf dem Platz. Ohne dabei seine weitläufige Position zu verlassen, lauerte er vielen Zweikämpfen, die er nicht selbst bestritt, in Schlagdistanz als Verstärkung auf. Wenn sein Mitspieler den Zweikampf verlor, griff Matthäus ein – wenn er ihn aber gewann, sorgte Lothars unmittelbare Präsenz dafür, dass sofort ein Konter in Überzahl losrollen konnte. Verließen derweil seine Nebenmänner Bein oder Häßler ihre Position und Matthäus war nicht aktiv in Ballnähe eingebunden, besetzte er deren verlassene Räume, um die Formation zu halten.
Dies galt auch für Ausflüge Augenthalers: Marschierte der Libero, kippte Lothar neben die Manndecker ab. Außerdem dominierte er die Mitte des Spielfeldes als aktiver Auslöser diverser Pressingmomente. Insgesamt erlaubten ihm seine Präsenz und Antizipation mehrere Ballgewinne – auch gegen Jugoslawiens Spielmacher Dragan Stojkovic, den er teilweise aus dem Spiel nahm und dazu bewegte, aus dem Zentrum nach rechts auszuweichen, um aktiver am Spiel teilnehmen zu können.
In Ballbesitz war Matthäus sogar noch besser. Er bewegte sich ständig, um immer anspielbar zu sein, hin und wieder ließ er sich in den Raum vor die Manndecker fallen, um sich dort den Ball abzuholen. Dann zog Lothar das deutsche Spiel mit den unterschiedlichsten Pässen auf: vom einfachen, eine Linie überspielenden Vertikalpass über eine horizontale Verlagerung bis hin zum (tödlichen) Steilpass über 40 Meter – ob flach, halbhoch oder hoch. Dabei verstand er es exzellent, in welcher Situation welcher Pass sinnvoll war. Die Genauigkeit dabei war außergewöhnlich.
Seine Mitspieler suchten ihren Kapitän vor allem im mittleren Drittel. Dort startete Matthäus in der Regel seine unnachahmlichen Antritte, an deren Ende – nach guter Entscheidungsfindung – meist ein finaler Pass oder Abschluss folgte. “Off-Ball” bot er vereinzelt Tiefenläufe an, die seine Mitspieler zumindest teilweise nutzten. Auffällig war Matthäus’ gutes Timing der Antritte mit Ball, der Läufe ohne Ball und bei seinem Passspiel im Allgemeinen. Ein gutes Gefühl für das Spiel.
Auch Lothars Schwächen bei diesem Turnier traten bereits im Auftaktspiel auf. Zum einen nahm er sich gelegentlich Auszeiten, in denen er vor allem in “toten” Räumen stand und phasenweise weder im Spiel mit noch im Spiel ohne Ball wirklich teilnahm – was an Auftritte der Jahre 1987 und 1988 erinnerte. Zum anderen war er durch seinen Übereifer im Pressing und bei Tacklings dafür anfällig, von seiner Position gelockt und/oder leicht ausgespielt zu werden – das unterlief Matthäus selbst in gefährlichen Zonen. So entstand für Jugoslawien eine Großchance durch Susic.
Seine beiden Tore gegen Jugoslawien standen für alles, was Matthäus auf dem Höhepunkt seiner Schaffenskraft ausmachte. Beim 1:0 präsentierte er Technik (bei der Ballannahme und -verarbeitung), Dynamik (bei der Drehung) und beidfüßige Schussstärke (mit links von außerhalb des Strafraums) nahezu in Perfektion. Der Führungstreffer war eine Einzelleistung. Eine solche stellte auch sein noch bekannteres zweites Tor dar, als Matthäus unaufhaltsam über den halben Platz sprintete und den Ball – wieder von außerhalb des Strafraums – ins Eck schweißte. Das wichtigste Attribut dieses Tores war übrigens sein Zeitpunkt: nicht lange nach Jugoslawiens Anschlusstreffer, ansatzlos mitten in die beste Phase des Gegners hinein. Absoluter Matchwinner beim hochverdienten 4:1.
Die (restliche) Vorrunde
Im zweiten Gruppenspiel gegen die Vereinigten Arabischen Emirate konnte Matthäus sein Über-Niveau größtenteils halten. Sein aufmerksames Antizipieren im Spiel mit und ohne Ball machte ihn in Umschaltmomenten zum absoluten Schlüsselspieler. Gegen die VAE bewies Lothar, das Mittelfeld aus zentraler Rolle nicht nur in seiner kompletten Länge, sondern auch in seiner kompletten Breite bespielen und dominieren zu können.
Matthäus überzeugte als primärer Ballgewinner der deutschen Mannschaft (die beiden Manndecker ausgenommen) und präsentierte im Konterspiel große Variabilität durch schnörkellose One-Touch- und Doppelpässe. Er war in diesen Situationen also kein Alleinunterhalter, der den Ball stets solo nach vorne trieb. In seltenen Momenten nahm der Kapitän es sich allerdings heraus, einem Mitspieler den Ball vom Fuß zu schnappen.
Was Lothar rechtfertigte: Vor allem er besorgte den klaren Pflichtsieg gegen die Araber (5:1). Weil es über eine halbe Stunde lang 0:0 gestanden hatte, erhöhte Matthäus seine Aktionsfrequenz – und brachte das 1:0 auf den Weg, indem er Vorbereiter Klinsmann über den rechten Flügel schickte. Als es kurz nach der Pause auch den Arabern gelang, auf 2:1 zu verkürzen, nahm sich Matthäus der Sache erneut selbst an und stellte postwendend den alten Abstand wieder her. Wiederholt traf der Kapitän von außerhalb, seine Schüsse aus der zweiten Reihe hatten insgesamt allerdings eine gemischte Streuung.
Eine bemerkenswerte Sequenz lieferte Lothar, der auch in diesem Spiel viel organisierte, aber vor allem seine Mitspieler glänzen ließ, in den Schlussminuten, als es bereits 5:1 stand: Nach einem Foul an ihm stand er blitzschnell auf, um im Konter nach dem schnell ausgeführten Freistoß einen tiefen Lauf anzubieten. Wenig später regte sich Matthäus nach einem sauberen Ballgewinn, der ihm abgepfiffen wurde, tierisch auf. Das zweite Spiel, in dem er in vielerlei Hinsicht als Anführer voranging.
Im dritten Spiel gegen Kolumbien (1:1) ging es zumindest noch um den Gruppensieg, der gleichzeitig bedeutete, in Mailand bleiben zu können. Matthäus begann etwas tiefer und in einer weniger balldominanten Rolle, hauptsächlich verlagerte er das deutsche Spiel.
Gegen dynamische und spielstarke Kolumbianer, die ihn als Star des bisherigen Turniers intensiver attackierten als zuvor die Jugoslawen und Araber, hielt Lothar als Zweikämpfer im Mittelfeld erneut dagegen, stieß durch die bereits erwähnten Timing-Probleme beim Nach-vorne-Verteidigen aber mehr an seine Grenzen. Außerdem beteiligte er sich merklich weniger am deutschen Angriffsspiel, mit Ausnahme der Umschaltmomente. Womöglich teilweise aus taktischen Gründen, vielleicht gelang es ihm aber auch einfach nicht.
Matthäus baute bis dato untypische Unsicherheiten ein, phasenweise kontrollierten die Kolumbianer das Mittelfeld. Ein insgesamt geringerer Aktionsradius setzte sich aus jedem einzelnen Punkt in Matthäus’ Spiel zusammen, die gegen Kolumbien im Vergleich zu den ersten beiden Spielen allesamt schlechter waren. Dennoch gelang ihm in der Schlussphase beinahe das 1:0, als er einen Lauf in den Strafraum anbot und bedient wurde, sein Heber über Keeper Higuita jedoch nur an den Querbalken klatschte. Auch in der Entstehung von Pierre Littbarskis 1:0 war er beteiligt, obwohl Vorlagengeber Völler die weitaus größere Leistung erbrachte.

Die K.-o.-Phase
Im Achtelfinale gegen die Niederlande (2:1), das nach dem skandalösen Rijkaard-Völler-Scharmützel größtenteils zehn gegen zehn stattfand, bot Beckenbauer sechs üblicherweise defensiv ausgerichtete Akteure auf. Zum Libero und den beiden Außenverteidigern gesellten sich diesmal sogar drei Manndecker, Buchwald übernahm den agilen Aron Winter und spielte in Ballbesitz im Mittelfeld. Matthäus hatte also weniger Defensivpflichten als im bisherigen Turnierverlauf und tauchte daher weiter vorne auf.
Die etwas unausgewogene Formation blieb auch nach der Herausstellung des Stürmers Völler bestehen – was sie noch unausgewogener machte. Das ungewöhnlich zusammengestellte Mittelfeld rochierte mehr als sonst, Matthäus war nicht der klare Mittelpunkt des deutschen Spiels und verhältnismäßig weniger beteiligt – ohne, dass die Holländer ihn rigoros abgeschirmt hätten. Lothar “lauerte” erneut viel, dies aber passiver als sonst, und setzte seine Mitspieler hauptsächlich über lange Bälle ein. Vereinzelt gab er den Ein-Mann-Konter, hatte eine Kopfballchance.
Nach etwa einer Stunde, sie lag bereits in Rückstand, wurde die durch Organisator Rijkaards Abwesenheit beeinträchtigte Elftal stärker – und mit ihr Matthäus, der dagegen anspielte. Er durchbrach Linien durch Läufe und Dribblings, verkoppelte den Rest der Mannschaft mit der alleinigen Spitze Klinsmann und trat als Abschlussspieler in Erscheinung (eine sehr gute Schusschance). An den beiden deutschen Toren war der Kapitän diesmal nicht entscheidend beteiligt.
Im Viertelfinale gegen die Tschechoslowakei (1:0) rückte Matthäus in seine übliche zentrale Rolle zurück. Von Beginn an agierte er wieder wesentlich aktiver und war in der ersten Hälfte der klare Verbindungsspieler zwischen Abwehr und Angriff – auch wenn sich sein Beitrag in Richtung letztes Drittel in Grenzen hielt. Lothars wieder größerer Aktionsradius gestaltete sich außerdem mehr horizontal. Beide Beobachtungen lassen sich dadurch erklären, dass Völler-Ersatz Karl-Heinz Riedle im Vergleich zu der gesperrten Stammkraft eher als hängende Spitze agierte.
Matthäus gab also mehr den Ballverteiler als den dynamischen Läufer, wobei die langen Pässe teilweise ungenau waren. In puncto Passivität und Probleme beim Timing unterliefen ihm erneut ein paar Schludrigkeiten, sein souveräner Elfmetertreffer machte auf der Anzeigetafel allerdings den Unterschied.
Die unkonzentrierte und leichtsinnige Phase gegen Spielende, die Beckenbauer hinterher so ausflippen ließ, konnte trotz Überzahl auch Matthäus kaum eindämmen. Sein genereller Beitrag zur defensiven Stabilität brachte die knappe Führung aber mit über die Zeit.

Im Halbfinale gegen England (1:1, 5:4 n. E.) machte Matthäus sein eindeutig schlechtestes Spiel bei dieser WM. Erstmals musste Deutschland San Siro verlassen, im Turiner Delle Alpi waren die Engländer in der ersten Hälfte klar besser – auch wenn das 1:1 nach 90 Minuten durchaus in Ordnung ging.
Die deutsche Unterlegenheit rührte auch aus der ungewohnten “Abwesenheit” Matthäus’, der im persönlichen Duell mit Gegenspieler Paul Gascoigne sowohl mit dem als auch gegen den Ball den Kürzeren zog. Einen “Lothar light” gab eher Olaf Thon, der erstmals in der Startelf stand und Deutschlands aktivster und bester Mittelfeldspieler war. Inwieweit das Positionieren und Einbinden von Matthäus und Thon womöglich taktische Kniffe waren, lässt sich für mich als Außenstehenden nicht final beurteilen.
Matthäus hatte zwar seine zentrale Rolle inne (deutlich tiefer als Thon und Häßler), hielt sich in jeder Lage aber kaum in Ballnähe auf: Baute Deutschland tief auf, rückte er nach vorne; wurde das Spiel höher gemacht, ließ er sich tief fallen. Gewann er den Ball oder sammelte er einen freien Ball in der eigenen Hälfte auf, schlug Lothar ihn in den Momenten eher entlastend nach vorne, in denen er im bisherigen Turnierverlauf normalerweise gefährliche Gegenstöße einleitetet hatte.
Gegen den Ball fungierte Matthäus mit seiner wertvollen Schnelligkeit hin und wieder als Kontersicherung. Bot Lothar bei deutschem Ballbesitz als “dritter Angreifer” seine Läufe an, war seine Positionierung dabei – meist in unmittelbarer Ballnähe – diesmal fragwürdig.
Als typische Aktion mit Signalwirkung initiierte Matthäus zu Beginn der zweiten Hälfte eine Torchance, etwas später rutschte er bei einem sensationellen Konterlauf unglücklich aus. Sein kurzzeitiges “aktiver werden” trug zur deutschen Drangphase bei, in der Brehmes abgefälschter Freistoß das 1:0 besorgte. Direkt im Anschluss streute Matthäus ein Dribbling, einen Schuss und eine “Chase down”-Grätsche gegen Gascoigne ein – diese dominante Sequenz war jedoch nur von kurzer Dauer. Es war daher ein wenig bezeichnend, dass Lothar Paul Parkers Flugball zuließ, nach dem der Ausgleich durch Lineker fiel.
Auch in der Verlängerung fehlte es Matthäus, der Thon mit Anspielen und den Gegner verwirrenden Laufwegen auch die Bühne überließ, immer wieder an Timing und Präzision. Alles in allem hatte der Kapitän im Halbfinale fast überall auf dem Platz punktuellen Einfluss, die übliche Präsenz war allerdings nicht zu erkennen.
Als zweiter deutscher Schütze im erfolgreichen Elfmeterschießen verwandelte er ziemlich sicher. Und präsentierte sich als grandioser Gewinner, als er Englands Fehlschütze Waddle tröstete, ehe er mit seinen Kollegen jubelte.

Finale
Im Endspiel gegen überforderte Argentinier (1:0) meldete sich Matthäus mit einer dynamischen Aktion gegen Verbindungsspieler Burruchaga zeitig zurück. Lothar gewann wieder mehr Bälle, unterstützte aktiv in Ballnähe, er dirigierte, er forderte, er bewegte sich – wodurch er seine Gegenspieler immer wieder von ihrer Position zog und Räume für Mitspieler schaffte. Zudem unterstützte er Buchwald gegen Maradona.
Lothar kam wieder tief und zog von dort das deutsche Spiel auf. Als Instanz in der Zentrale war sein Positionsspiel – erneut füllte er für nach vorne rückende Nebenmänner auf – diesmal herausragend. Was für das gesamte deutsche Team galt: Die erste und die letzte Partie bei Italia ’90 waren die beiden besten des Weltmeisters.
Wie gegen Jugoslawien war Matthäus DER linienüberspielende Akteur, der zudem gute Flanken aus dem Halbfeld schlug. Durch ein sehr simples, reifes und uneigennütziges Spiel zählte der Kapitän als Abfänger und Einleiter zu den besten Deutschen in einem einseitigen Finale. Er krönte seine Leistung mit cleverem Antritt und feinem Steilpass auf Völler in der Entstehung des entscheidenden Elfmeters.
Fazit
“Zum ersten Mal ein Turnier, wo man sagen kann: Toll gespielt”, adelte Kommentator Gerd Rubenbauer Kapitän Matthäus, als er den größten aller Pokale in den Römer Nachthimmel reckte. Es hatte für den Franken eine Weile gedauert und den Wechsel nach Mailand benötigt, um sein riesiges Potenzial komplett zu entfalten und abzurufen. Die WM 1990 in Italien war Matthäus’ Meisterstück.
Zwar konnte Lothar sein Manko, sich während eines Spiels immer wieder Auszeiten zu nehmen und die große Konstanz generell ein wenig vermissen zu lassen, selbst in Italien nicht ablegen. Erwischte er damals allerdings einen seiner Tage, lieferte er eine Qualität, die seither kein deutscher Feldspieler erreichte. Müsste ich seinen sieben Auftritten bei der WM 1990 Noten geben, käme Folgendes dabei heraus:
Jugoslawien, Vorrunde: Note 1*
VAE, Vorrunde: Note 1
Kolumbien, Vorrunde: Note 3
Niederlande, Achtelfinale: Note 3
Tschechoslowakei, Viertelfinale: Note 2,5
England, Halbfinale: Note 4
Argentinien, Finale: Note 2
Auch wenn sich der Eindruck aufdrängt, dass der beste deutsche Spieler in Italien – wenn man ohne Berücksichtigung von Aufgabenvielfalt und Verantwortung lediglich alle sieben Leistungen addiert – der extrem vielseitige Guido Buchwald war, führt kein Weg daran vorbei, dass Lothar Matthäus der eine, der wichtigste Akteur war, ohne den Deutschland 1990 nicht Weltmeister geworden wäre.
Durch seine Torbeteiligungen und den großen Einfluss seiner individuellen Qualität, durch die er das Momentum in kniffligen Spielphasen wieder und wieder schier im Alleingang auf die deutsche Seite zog, avancierte der heutige Jubilar ohne jeden Zweifel zu einem der ganz wenigen Spieler in der Geschichte des Fußballs, die man als “Weltmeister-Macher” bezeichnen muss. Muss.
Herzlichen Glückwunsch, Lothar!
Wie kann man so viel wissen… Das mit dem Zeitreisen musst du mir bei Gelegenheit mal zeigen!